Wenn Ich Bleibe
ich – wenn ich wieder gesund sein würde – Mr Dunlap besuchen und ihm die Last von den Schultern nehmen würde, ihm versichern, dass es nicht seine Schuld war. Vielleicht könnten wir Freunde werden.
Natürlich ist das Wunschdenken. Unsere Begegnung würde von Unbehagen und Trauer geprägt sein. Außerdem weiß ich immer noch nicht, wie ich mich entscheiden werde, habe immer noch keine Ahnung, wie ich mein Bleiben oder Gehen überhaupt bewerkstelligen soll. Bis ich das herausgefunden habe, muss ich alles dem Schicksal überlassen oder den Ärzten oder wer auch immer die Entscheidungen trifft, wenn derjenige, der sie eigentlich treffen müsste, zu verwirrt ist, um sich auch nur zwischen der Treppe und dem Fahrstuhl zu entscheiden.
Ich brauche Adam. Ich schaue mich noch einmal suchend um, kann aber weder Kim noch ihn entdecken. Also gehe ich wieder nach oben auf die Intensivstation.
Ich finde sie vor der Tür zur Unfallchirurgie, ein ganzes Stück weit von der Intensivstation entfernt. Sie bemühen sich, unauffällig zu bleiben, während sie an einer
Reihe von Türen zu Vorratskammern rütteln. Als sie endlich eine finden, die nicht verschlossen ist, huschen sie hinein und tasten nach dem Lichtschalter. Leider kann ich ihnen nicht sagen, dass er sich draußen neben der Tür befindet.
»Ich bin mir nicht sicher, ob so etwas auch in Wirklichkeit funktioniert und nicht nur in Filmen«, sagt Kim zu Adam, während sie mit der Hand über die Wand streicht.
»In jeder Fiktion liegt ein Körnchen Wahrheit«, gibt er zurück.
»Du siehst nicht gerade wie der typische Arzt aus«, sagt sie.
»Ich hatte auch eher an eine Art Hausmeister gedacht. Oder an eine Reinigungskraft.«
»Warum sollte sich ein Hausmeister auf der Intensivstation aufhalten?«, fragt Kim. Sie ist sehr gründlich, wenn es um Details geht.
»Um eine Glühbirne zu wechseln oder so etwas. Keine Ahnung. Es kommt nur darauf an, wie man es anstellt.«
»Ich begreife immer noch nicht, warum du nicht einfach zu ihrer Familie gehst«, sagt Kim, pragmatisch wie immer. »Ich bin sicher, dass ihre Großeltern einen Weg finden würden, damit du Mia sehen kannst.«
Adam schüttelt den Kopf. »Weißt du, als die Schwester mir mit dem Sicherheitsdienst drohte, war mein erster Gedanke: ›Ich sage Mias Eltern Bescheid, die werden
sich darum kümmern.‹« Adam schweigt ein paar Atemzüge lang. »Es erschlägt mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich daran denke, und jedes Mal ist es genauso schlimm wie das erste Mal«, sagt er mit rauer Stimme.
»Ich weiß«, erwidert Kim flüsternd.
»Also«, sagt Adam und sucht weiter nach dem Lichtschalter. »Ich kann nicht zu ihren Großeltern gehen. Ich kann ihnen nicht noch mehr aufbürden. Dies ist etwas, das ich alleine machen muss.«
Ich bin sicher, dass meine Großeltern Adam nur zu gerne helfen würden. Sie haben ihn ein paarmal getroffen und mögen ihn sehr. An Weihnachten macht meine Großmutter immer Walnuss-Karamellbonbons, weil er einmal erwähnt hat, wie gerne er die isst.
Aber ich weiß auch, dass Adam manchmal etwas Dramatisches tun muss. Er liebt große Gesten. Wie zum Beispiel, als er das Trinkgeld vom Pizza-Ausfahren sparte, damit er mich zu dem Yo-Yo-Ma-Konzert einladen konnte, statt mich einfach um eine Verabredung zu bitten. Oder wie er eine Woche lang jeden Tag von außen Blumen auf meine Fensterbank legte, als ich mit Windpocken im Bett lag und er mich wegen der Ansteckungsgefahr nicht besuchen durfte.
Jetzt kann ich sehen, dass sich Adam in eine neue Herausforderung stürzt. Ich bin nicht sicher, was er vorhat, aber wie auch immer sein Plan aussehen mag, ich bin ihm dankbar dafür, und sei es auch nur, weil er die
Betäubung und die Schwäche von vorhin völlig abgeschüttelt hat. Ich habe ihn schon erlebt, wenn er so ist wie jetzt, wenn er einen neuen Song schreibt oder wenn er versucht, mich zu etwas zu überreden, was ich nicht will – wie etwa, mit ihm zelten zu gehen -, und nichts, kein Meteor, der auf die Erde zurast, und schon gar keine verbiesterte Oberschwester auf der Intensivstation ihn von seinem Vorhaben abbringen kann.
Außerdem ist ja gerade die verbiesterte Oberschwester schuld daran, dass sich Adam zu einer Großtat genötigt fühlt. Und wenn ich richtig liege mit meiner Vermutung, versucht es Adam mit dem ältesten Krankenhaustrick der Welt, geradewegs dem Film Auf der Flucht entnommen, den meine Mutter und ich kürzlich im Fernsehen gesehen haben. Ich bezweifle, dass es
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