Wenn Ich Bleibe
sehr ich nach wie vor versuchte, sie einander nahezubringen. Das Komische war, dass ich Kims Behauptung, sie wären durch mich miteinander verbunden, niemals Glauben geschenkt hatte – nicht, bis ich sah, wie sie ihn in ihren Armen durch den Flur des Krankenhauses schleppte.
20.12 Uhr
Ich schaue Kim und Adam nach, die hinter einer Biegung verschwinden. Ich will ihnen folgen, aber ich scheine am Linoleum festzukleben, unfähig, meine Phantombeine zu bewegen. Erst als sie weg sind, erwache ich wieder zum Leben und renne hinter ihnen her, aber sie sind schon im Aufzug verschwunden.
Mittlerweile steht für mich fest, dass ich keine übernatürlichen Fähigkeiten habe. Ich kann nicht durch Wände gehen oder Treppen hinunterschweben. Ich kann nur die Dinge tun, die mir auch im wirklichen Leben möglich sind. Allerdings ist das, was ich in meiner augenblicklichen Welt tue, für alle anderen unsichtbar. Niemand schaut zweimal hin, wenn ich eine Tür öffne oder den Knopf des Fahrstuhls drücke. Ich kann Dinge berühren, kann Türgriffe hinunterdrücken und Ähnliches, aber ich kann nichts und niemanden wirklich fühlen. Es ist so, als ob ich alles durch ein Goldfischglas erlebe. Ich kann keinen Sinn darin erkennen, aber das geht mir mit allem so, was an diesem Tag geschehen ist.
Ich vermute, dass Kim und Adam ins Wartezimmer gegangen sind, um sich meiner Familie anzuschließen,
aber als ich dorthin komme, ist niemand da. Auf den Stühlen liegen Pullover und Jacken, und ich erkenne die orangefarbene Windjacke meiner Cousine Heather. Sie lebt auf dem Land und geht gerne in den Wäldern wandern. Sie sagt, dass man sich in Signalfarben kleiden muss, damit man nicht von angetrunkenen Jägern versehentlich für einen Bären gehalten und erschossen wird.
Ich schaue auf die Uhr an der Wand. Zeit zum Abendessen. Ich gehe durch dieselben Flure wieder zurück zur Cafeteria, wo der gleiche Dunst nach Tiefkühlkost und gekochtem Gemüse hängt wie in jeder Cafeteria der Welt. Trotz der unappetitlichen Ausdünstungen ist es voll. An den Tischen drängen sich Ärzte, Schwestern und Pfleger und unsicher dreinblickende Medizinstudenten in kurzen weißen Jacken und mit Stethoskopen, die so blank poliert sind, dass sie wie Spielzeug aussehen. Sie alle kauen auf pappigen Pizzas und matschigen Kartoffeln herum. Es dauert eine Weile, bis ich meine Familie entdecke, die sich um einen Tisch zusammenkauert. Meine Großmutter unterhält sich mit Heather. Gramps konzentriert sich ganz und gar auf sein Truthahnsandwich.
Tante Kate und Tante Diane sitzen beisammen und flüstern miteinander. »… nur ein paar Schnitte und Schrammen. Er wurde schon wieder aus dem Krankenhaus entlassen«, sagt Tante Kate gerade. Einen Moment lang glaube ich, sie sprechen über Teddy, und ich
bin so erleichtert, dass ich weinen könnte. Aber dann sagt sie etwas über Alkohol im Blut, und dass unser Wagen auf seine Fahrbahn geriet, und sie nennt einen Namen: Mr Dunlap, der sagte, er hätte nicht mehr bremsen können. Und da wird mir klar, dass sie nicht über Teddy redet, sondern über den Fahrer des anderen Unfallwagens.
»Die Polizei meint, es war wahrscheinlich der Schnee oder ein Reh, dem sie ausgewichen sind«, fährt Tante Kate fort. »Und offensichtlich ist das, was dann geschehen ist, nicht ungewöhnlich: Einer Partei geht es gut, und auf der anderen Seite passiert eine Katastrophe …« Sie verstummt.
Ich weiß nicht, ob ich behaupten würde, Mr Dunlap gehe es gut, egal, wie leicht seine Verletzungen auch sein mögen. Ich überlege mir, wie ich mich an seiner Stelle fühlen würde. Da wacht er eines Dienstagmorgens auf und steigt in den Laster, um zur Arbeit in der Mühle zu fahren oder vielleicht zur Viehfutterhandlung oder zu Loretta’s Diner, um ein paar Rühreier zu essen. Mr Dunlap, der glücklich oder unglücklich gewesen sein mochte, ein verheirateter Familienvater oder ein Junggeselle. Aber was immer und wer immer er heute Morgen war, das ist er nicht mehr. Sein Leben hat sich unwiderruflich verändert. Wenn das, was meine Tante sagt, stimmt und der Unfall nicht seine Schuld war, dann ist er das, was Kim einen »armen Schmock« nennt. Er war einfach zur falschen Zeit am falschen
Ort. Und weil er ein Unglücksrabe ist und heute Morgen in seinem Laster auf der Route 27 nach Osten fuhr, haben zwei Kinder jetzt keine Eltern mehr und mindestens eins davon befindet sich zwischen Leben und Tod.
Wie soll man mit so etwas leben? Ich stelle mir vor, wie
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