Wenn Ich Bleibe
der Ecke und spielte für mich allein. Es war eine andere Art Musik als die, die ich vorher gemacht hatte, und sie war merkwürdig belebend. Ich wollte Something in the Way in der kommenden Woche für Kim spielen, wenn sie zu uns zum Abendessen kam.
Aber bevor ich an diesem Abend die Gelegenheit dazu bekam, erklärte Kim meinen Eltern beim Essen, dass sie es für eine gute Idee hielt, wenn ich ein Sommercamp besuchen würde.
»Was? Soll ich konvertieren, damit ich mit dir in dein Torah-Camp fahren kann?«, fragte ich.
»Nein. Es ist ein Musik-Camp.« Sie zog eine glänzende Broschüre des Franklin Valley Konservatoriums heraus, ein Sommerveranstaltungsprogramm in British Columbia. »Da gehen nur richtige Musiker hin«, sagte Kim. »Du musst eine CD mit einer Aufnahme von dir einschicken, wenn du dich bewirbst. Ich habe angerufen. Die Frist für die Bewerbung läuft am 1. Mai aus, also hast du noch genug Zeit.« Sie sah mich geradeheraus an, als ob sie darauf wartete, dass ich wütend über ihre Einmischung werden würde.
Ich war nicht wütend. Mein Herz klopfte so heftig, als ob Kim verkündet hätte, meine Familie hätte in der Lotterie gewonnen, und gleich würde sie uns sagen, wie hoch der Gewinn war. Ich schaute sie an. Ihr herausforderndes Grinsen konnte nicht über die Nervosität in ihren Augen hinwegtäuschen. Ich war überwältigt vor Dankbarkeit, dass ich eine Freundin hatte, die mich offenbar besser verstand als ich mich selbst. Mein Vater fragte mich, ob ich daran interessiert sei, und als ich wegen der Kosten abwehren wollte, meinte er, darum sollte ich mich nicht kümmern. Ob ich gehen wollte? Und ob ich wollte. Mehr als alles andere.
Als mich mein Vater drei Monate später in einer einsamen Ecke von Victoria Island absetzte, war ich mir nicht mehr so sicher. Das Ganze sah aus wie ein typisches Sommercamp, mit Holzhütten im Wald und Kajaks am Ufer. Es waren etwa fünfzig Jugendliche da, und nach der Art zu urteilen, wie sie sich kreischend umarmten, kannten sie sich alle schon seit Ewigkeiten. Ich dagegen kannte niemanden. In den ersten sechs Stunden war der stellvertretende Leiter des Camps der Einzige, der mit mir sprach. Er wies mir eine Hütte zu, zeigte mir mein Feldbett und gab mir die Richtung an, wo sich der Speisesaal befand, in dem mir abends ein Teller vorgesetzt wurde, auf dem etwas lag, das wohl ein Fleischklops sein sollte.
Unglücklich starrte ich auf meinen Teller und dann
hinaus in den düster grauen Abend. Bereits jetzt vermisste ich meine Eltern, Kim und besonders Teddy. Er war in dem lustigen Alter, wo er ständig neue Dinge ausprobierte, unentwegt fragte: »Was ist das?«, und die komischsten Sachen sagte. Am Tag, bevor ich abgereist war, erklärte er mir, er sei »zu neun Zehnteln durstig«, und ich hätte mir vor Lachen beinahe in die Hosen gemacht. Vor lauter Heimweh seufzte ich und schob den Fleischklops auf meinem Teller hin und her.
»Keine Sorge, es regnet nicht jeden Tag. Nur jeden zweiten.«
Ich schaute auf. Vor mir saß ein verschmitzt aussehender Junge, der kaum älter sein konnte als zehn. Er hatte einen blonden Mecki-Haarschnitt, und die Sommersprossen auf seiner Nase sahen aus wie Sternenstaub.
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich stamme aus Oregon. Allerdings hat dort, wo ich wohne, heute Morgen ausnahmsweise die Sonne geschienen. Was mich viel mehr in Sorge versetzt, ist dieser Fleischklops hier.«
Er lachte. »Das allerdings wird mit der Zeit wirklich nicht besser. Aber die Sandwiches mit Erdnussbutter und Gelee sind lecker«, sagte er und deutete zu einem Tisch, wo sich ein halbes Dutzend Jugendlicher Brote schmierte. »Peter. Posaune. Ontario«, sagte er. Dies, so erfuhr ich, war die Standardbegrüßung hier im Camp.
»Oh, hallo. Ich bin Mia. Cello. Oregon. Nehme ich an.«
Peter erzählte mir, dass er dreizehn war und schon seinen zweiten Sommer hier verbrachte. Fast jeder kam mit zwölf Jahren zum ersten Mal hierher. Von den fünfzig Teilnehmern spielte etwa die Hälfte Jazz und die andere Hälfte Klassik, also waren wir eine kleine Truppe. Es gab nur noch zwei andere Cellisten. Einer von ihnen war ein schlaksiger, rothaariger Typ namens Simon, den Peter herbeiwinkte.
»Nimmst du auch an dem Konzertwettbewerb teil?«, fragte mich Simon, sobald Peter mich als »Mia. Cello. Oregon« vorgestellt hatte. Simon war »Simon. Cello. Leicester«. Leicester ist, so stellte sich heraus, eine Stadt in England. Die Gruppe war ziemlich international.
»Ich
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