Wenn Ich Bleibe
Noten auf seiner zerschrammten
Akustikgitarre zupfte, aber er sagte immer, dass die Songs erst dann wirklich geschrieben werden, wenn man sie spielt. Das war es, was sie so interessant machte.
Wenn ich spielte, war ich meistens für mich, allein in meinem Zimmer. Auch wenn ich mit den ständig wechselnden Collegestudenten übte, spielte ich meistens allein. Und wenn ich ein Konzert gab, war ich allein auf einer Bühne – da gab es mich, mein Cello und das Publikum. Und anders als bei den Auftritten meines Vaters, wo begeisterte Fans auf die Bühne sprangen und sich dann ins Publikum fallen ließen, wo sie aufgefangen wurden, bestand zwischen mir und meinem Publikum immer eine Art Mauer. Nach einer Weile wurde ich einsam bei dieser Art von Musik. Und es wurde auch langweilig.
Daher entschied ich mich Anfang der achten Klasse, damit aufzuhören. Ich wollte die Sache einfach auslaufen lassen, wollte meine ausgedehnten Übungseinheiten zurückschrauben und keine Konzerte mehr geben. Ich nahm an, dass, wenn ich mich unauffällig zurückzog, ich im Herbst, wenn ich auf die Highschool kam, einen Neuanfang machen konnte. Ich würde nicht mehr »die Cellistin« sein. Vielleicht würde ich mir dann ein anderes Instrument aussuchen, die Gitarre oder die Bassgitarre oder vielleicht sogar das Schlagzeug. Meine Mutter war viel zu sehr mit Teddy beschäftigt, um sich den Umfang meiner Übungseinheiten zu merken, und mein Vater hatte nur Stundenpläne und Klausuren im Kopf –
er hatte gerade angefangen, als Lehrer zu arbeiten. Ich dachte mir, es würde erst dann auffallen, dass ich das Cello aufgegeben hatte, wenn ich nicht mehr spielte. Das redete ich mir zumindest ein. Aber in Wirklichkeit konnte ich genauso wenig mit dem Cellospielen aufhören, wie ich aufhören konnte zu atmen.
Womöglich hätte ich es ernsthaft versucht, wenn Kim nicht gewesen wäre. Eines Nachmittags fragte ich sie, ob sie Lust hätte, nach der Schule mit mir in die Stadt zu gehen.
»Heute ist ein Wochentag. Hast du keinen Cellounterricht?«, fragte sie mich, während sie am Zahlenschloss ihres Spindes drehte.
»Den lasse ich heute mal ausfallen«, sagte ich und tat so, als ob ich nach meinem Erdkundebuch suchen würde.
»Ist meine Freundin Mia von Außerirdischen entführt worden? Erst keine Konzerte mehr, und jetzt schwänzt du den Cellounterricht? Was ist los?«
»Ich weiß auch nicht«, sagte ich und klopfte mit den Fingern leicht auf den Spind. »Ich denke darüber nach, es mit einem anderen Instrument zu versuchen. Vielleicht mit Schlagzeug. Dads Sachen stehen noch bei uns im Keller und verstauben bloß.«
»Ja, klar. Du und Schlagzeug. Das ist echt ein guter Witz«, sagte Kim und kicherte.
»Ich mein’s ernst.«
Kim schaute mich mit offenem Mund an, als ob ich
ihr gerade eröffnet hätte, dass ich heute zum Abendessen Schneckenfilet verspeisen wollte. »Du kannst nicht mit dem Cellospielen aufhören«, sagte sie nach einem Moment verblüfften Schweigens.
»Warum nicht?«
Sie gab sich Mühe, die richtigen Worte zu finden. »Ich weiß nicht, aber es ist so, als ob das Cello ein Teil von dir ist. Ich kann mir dich nicht vorstellen ohne dieses Ding zwischen deinen Füßen.«
»Es ist blöd. Ich kann nicht einmal in der Marschkapelle der Schule mitspielen. Ich meine, wer spielt denn überhaupt Cello? Ein paar alte Leute vielleicht. Es ist ein blödes Instrument für ein Mädchen. Es sieht so idiotisch aus. Und ich will mehr Freizeit haben, möchte andere Sachen machen.«
»Was für Sachen?«, fragte Kim herausfordernd.
»Ähm, du weißt schon. Einkaufen. Mit dir zusammen sein …«
»Also bitte«, sagte Kim wegwerfend. »Du hasst einkaufen. Und du bist oft mit mir zusammen. Aber schön, wie du willst, lass den Cellounterricht heute ausfallen. Ich will dir was zeigen.« Wir gingen zu ihr nach Hause, und sie holte eine CD heraus: Nirvana MTV Unplugged . Sie spielte mir Something in the Way vor.
»Hör gut zu«, sagte sie. »Zwei Gitarristen, ein Schlagzeuger und eine Cellistin. Sie heißt Lori Goldstone, und ich wette, sie hat früher auch zwei Stunden täglich geübt, wie jemand anders, den ich kenne, denn
das muss man tun, wenn man mit den Philharmonikern spielen will – oder mit ›Nirvana‹. Und ich glaube nicht, dass jemand sie als Idiotin bezeichnet.«
Ich nahm die CD mit nach Hause und hörte sie mir während der folgenden Woche wieder und wieder an. Ich dachte gründlich über Kims Worte nach. Ein paarmal holte ich mein Cello aus
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