Wenn Ich Bleibe
Spielen blieb keine Zeit, jedenfalls nicht für diese Art von Spiel. Die Tage waren bis zum
Rand vollgestopft. Um halb sieben aufstehen, Frühstück um sieben, drei Stunden üben, Mittagessen, drei Stunden üben, Orchesterprobe, Abendessen. Dazwischen nur kurze Pausenzeiten.
Ich hatte noch nie mit mehr als einer Handvoll Musikern gespielt, daher waren die ersten Tage in einem Orchester für mich das reinste Chaos. Der Leiter des Camps, der auch der Dirigent war, setzte uns eilig nach Instrumenten sortiert zusammen und gab sich dann redliche Mühe, uns die einfachsten Stücke so spielen zu lassen, dass wir gleichzeitig fertig waren. Am dritten Tag hatte er ein paar Schlaflieder von Brahms dabei. Der erste Versuch war ernüchternd. Der Klang der unterschiedlichen Instrumente ergab keine Melodie; vielmehr hatte es den Anschein, als würden sie miteinander kollidieren, wie Steine, die in einen Rasenmäher geraten. »Entsetzlich!«, schrie er. »Wie wollt ihr je mit einem professionellen Orchester spielen, wenn ihr nicht einmal die Takte in einem Schlaflied hinkriegt? Also, noch mal!«
Nach etwa einer Woche fanden wir langsam zusammen, und ich bekam einen ersten Vorgeschmack darauf, wie es sich anfühlt, ein einzelnes Rädchen in einer großen Maschine zu sein. Ich hörte mein Cello plötzlich auf eine ganz neue Art und Weise, wie seine dunklen Töne sich mit den hohen der Geigen vereinigten, wie es die Basis für die Holzblasinstrumente legte, die sich auf der anderen Seite des Orchestergrabens befanden. Und wenn man glaubt, dass man sich entspannen kann,
wenn man Teil einer Gruppe ist, dass es nicht so wichtig ist, wie die eigene, einzelne Stimme im Chor mit den anderen klingt, so täuscht man sich gewaltig. Das Gegenteil ist der Fall.
Ich saß hinter einer siebzehnjährigen Geigerin namens Elisabeth. Sie war eine der begabtesten Musikerinnen im Camp – sie hatte ein Stipendium des Royal Conservatory of Music in Toronto bekommen – und sie war bildhübsch: groß, schlank, mit kaffeefarbener Haut und Wangenknochen, mit denen man Eis hätte schneiden können. Ich hätte sie hassen können, wenn sie nicht so grandios gespielt hätte. Wenn man nicht aufpasst, gibt eine Geige ein ganz entsetzliches kratzendes Kreischen von sich, selbst in der Hand eines erfahrenen Musikers. Aber wenn ich ihr zuhörte und sah, wie tief sie sich in ihrer Musik verlor, hatte ich keinen größeren Wunsch, als so zu spielen wie sie. Ich wollte sogar noch besser sein. Es war nicht nur, dass ich auf ihrem Niveau spielen und sie übertrumpfen wollte, ich hatte vielmehr das Gefühl, es ihr zu schulden, ihr, der Gruppe und mir selbst.
»Das klingt schön«, sagte Simon gegen Ende des Sommers, als er mir zuhörte, wie ich einen Auszug aus Haydns Cellokonzert Nummer zwei spielte, ein Stück, mit dem ich letzten Frühling, als ich es mir zum ersten Mal vorgenommen hatte, unglaubliche Probleme gehabt hatte. »Spielst du das im Wettbewerb?«
Ich nickte. Und dann konnte ich nicht anders: Ich grinste. Nach dem Abendessen, bevor wir zu Bett gehen mussten, hatten Simon und ich jeden Abend unsere Cellos hervorgeholt und im lang anhaltenden Zwielicht improvisierte Konzerte gegeben. Wir hatten uns zu Cello-Duellen herausgefordert, hatten uns gegenseitig mit verrückten Melodien überboten. Wir hatten ständig in einem Wettbewerb gestanden, hatten immer versucht, schneller als der andere zu spielen, besser, vollkommener. Unsere Duelle hatten so viel Spaß gemacht; vermutlich war das einer der Gründe dafür, dass ich mich mit dem Haydn-Konzert so wohl fühlte.
»Aha, da ist ja jemand ungeheuer von sich überzeugt. Glaubst du, du kannst mich schlagen?«, fragte Simon.
»Beim Fußballspielen? Jederzeit«, lachte ich. Simon behauptete immer, das schwarze Schaf in seiner Familie zu sein, nicht weil er schwul war oder Musiker, sondern weil er grottenschlecht Fußball spielte.
Simon tat so, als hätte ich ihm ins Herz geschossen. Dann lachte er auch. »Es passieren schon erstaunliche Dinge, wenn man aufhört, sich hinter diesem Monstrum zu verstecken, stimmt’s?«, sagte er und deutete auf mein Cello. Ich nickte. Simon lächelte mich an. »Aber werde bloß nicht übermütig. Du solltest meinen Mozart hören. Es klingt, als ob die Engel im Himmel sängen.«
Keiner von uns gewann in diesem Jahr den Orchesterplatz und das Solo. Elisabeth war die verdiente Siegerin. Es sollte noch vier Jahre dauern, bis ich mir endlich den Preis schnappte.
21.06 Uhr
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher