Wenn Ich Bleibe
glaube nicht. Ich weiß nicht einmal, was das ist«, antwortete ich.
»Na, du weißt doch, dass wir alle in einem Orchester spielen, oder? Und zwar eine Symphonie.«
Ich nickte, obwohl ich nur eine äußerst vage Vorstellung davon hatte. Mein Vater hatte mir den ganzen Frühling lang die Broschüren über das Camp laut vorgelesen, aber das Einzige, was mich interessiert hatte, war die Tatsache, dass ich mit anderen klassischen Musikern zusammen sein würde. Den Einzelheiten hatte ich kaum Beachtung geschenkt.
»Die Symphonie wird am Ende des Sommers aufgeführt. Es wird eine ziemlich große Sache, und es kommen Leute von überallher. Wir, die Jungmusiker,
spielen ein paar Stücke ohne das Orchester, aber ein Musiker aus dem Camp wird ausgewählt, um mit den Profis zu spielen und ein Solo zu präsentieren. Letztes Jahr hätte ich es fast geschafft, aber dann haben sie sich für einen Flötisten entschieden. Dieses Jahr ist meine vorletzte Chance, bevor ich meinen Abschluss mache. Die Streicher waren eine Zeit lang nicht mehr dran, und Tracy, die Dritte im Bunde der Cellisten, beteiligt sich nicht an dem Wettbewerb. Sie ist gut, nimmt aber das Spielen nicht so ernst. Du allerdings schon, wie ich höre.«
Tat ich das? Jedenfalls nicht so ernst, dass ich nicht mit dem Gedanken gespielt hatte, aufzuhören. »Wer behauptet das denn?«
»Die Lehrer hören sich die Bewerbungsaufnahmen an, und dann sickert so das eine oder andere durch. Deine Aufnahme war offensichtlich ziemlich gut. Es ist ungewöhnlich, dass jemand noch im zweiten Jahr aufgenommen wird. Daher habe ich auf eine anständige Konkurrenz gehofft, sozusagen um mich anzutreiben.«
»He, mach mal langsam«, mischte sich Peter ein. »Das Mädchen hat gerade erst Bekanntschaft mit dem Fleischklops gemacht.«
Simon rümpfte die Nase. »Verzeihung. Aber wenn du später über die Stücke nachdenkst, die du eventuell beim Wettbewerb spielen willst, dann lass uns mal reden, okay?«, sagte er und verschwand in Richtung der Eistruhe.
»Nimm Simon nicht so ernst. Ich glaube, dass schon eine ganze Zeit lang keine hochklassigen Cellisten mehr hier waren, und er ist deinetwegen schrecklich aufgeregt. Natürlich nur in künstlerischer Hinsicht. Er ist schwul, obwohl man das nicht gleich merkt, weil er Engländer ist.«
»Oh, verstehe. Aber was hat er vorhin gemeint? Es hörte sich so an, als ob er will , dass ich mit ihm konkurriere.«
»Aber sicher. Das ist doch der Spaß bei der Sache. Deshalb hocken wir doch alle hier in diesem Camp mitten im verdammten Regenwald«, sagte er und deutete nach draußen. »Das – und natürlich die exzellente Küche.« Peter schaute mich an. »Oder bist du aus einem anderen Grund hier?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich habe noch nie mit so vielen Leuten musiziert, jedenfalls nicht mit so vielen Leuten, denen die Sache so ernst ist.«
Peter kratzte sich an den Ohren. »Wirklich nicht? Du bist doch aus Oregon. Hast du schon mal was mit dem Portland-Cello-Projekt gemacht?«
»Dem was?«
»Das ist eine avantgardistische Vereinigung von Cellisten. Sehr interessante Sache.«
»Ich wohne nicht in Portland«, murmelte ich. Es war mir peinlich, dass ich noch nie von irgendeinem Cello-Projekt gehört hatte.
»Nun, mit wem spielst du dann?«
»Mit anderen Leuten. Meistens Studenten.«
»Kein Orchester? Kein Kammermusik-Ensemble? Kein Streichquartett?«
Ich schüttelte den Kopf und dachte daran, dass mich eine meiner Lehrerinnen einmal eingeladen hatte, in einem Quartett zu spielen. Ich hatte abgelehnt. Allein mit ihr zu spielen, war eine Sache, mit völlig Fremden zu musizieren, eine ganz andere. Ich hatte immer geglaubt, dass das Cello ein einsames Instrument war, aber langsam dämmerte mir, dass ich selbst es war, die sich ausgrenzte.
»Hmm. Wie kommt’s dann, dass du gut bist?«, fragte Peter. »Halte mich bitte nicht für ein arrogantes Arschloch, aber das ist doch der Weg, den man gehen muss, wenn man gut werden will, oder? Es ist so ähnlich wie beim Tennis. Wenn man mit schlechten Gegnern spielt, verpatzt man die Bälle oder haut die Aufschläge ins Netz, aber wenn man gegen einen Spitzenspieler antritt, ist man plötzlich auch spitze.«
»Ich weiß nicht«, sagte ich zu Peter. Ich kam mir wie die langweiligste und ahnungsloseste Person auf Erden vor. »Ich spiele kein Tennis.«
Die nächsten Tage zogen wie im Nebel an mir vorbei. Ich habe keine Ahnung, warum überhaupt Kajaks am Ufer lagen; zum
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