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Wenn Ich Bleibe

Titel: Wenn Ich Bleibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gayle Forman
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eine Arztpraxis oder ein Kreißsaal. Es wirkt von außen eher wie ein ganz normales Wohnhaus und ist innen mit Betten und Whirlpools ausgestattet. Die medizinischen Apparate sind diskret in Wandschränken versteckt. Die Hebamme, ein Überbleibsel aus der Hippiezeit, führte meine Mutter und meinen Vater in ein Zimmer und fragte mich, ob ich mitkommen wollte. Mittlerweile hörte ich, wie meine Mutter lautstark Flüche und Schimpfworte brüllte.
    »Ich kann deine Großmutter anrufen, damit sie dich abholt«, sagte mein Vater und zuckte unter dem Sperrfeuer
des Gebrülls meiner Mutter zusammen. »Das kann hier eine Weile dauern.«
    Ich schüttelte den Kopf. Meine Mutter brauchte mich. Sie hatte es selbst gesagt. Und so setzte ich mich auf eins der geblümten Sofas und nahm mir eine Zeitschrift, auf deren Cover ein komisch aussehendes, kahlköpfiges Baby prangte. Mein Vater verschwand in dem Zimmer mit dem Bett.
    »Musik! Verdammt, Musik!«, kreischte meine Mutter.
    »Wir haben eine wunderbare CD von Enya. Sehr beruhigend«, sagte die Hebamme.
    »Scheiß auf Enya!«, brüllte meine Mutter. »›Melvyns‹. Earth . Jetzt sofort!«
    »Alles klar«, sagte mein Vater. Und dann legte er eine CD mit der lautesten, kreischendsten, wildesten E-Gitarrenmusik ein, die ich je gehört hatte. Daneben waren die rasantesten Punksongs, die mein Vater sich normalerweise anhörte, die reine Harfenmusik. Diese Musik war ursprünglich, primitiv, und meine Mutter schien sich dabei besser zu fühlen. Sie fing an, diese tiefen, gutturalen Töne von sich zu geben. Ich saß nur still da. Ab und zu schrie sie meinen Namen, und ich raste in das Zimmer. Meine Mutter schaute mich an. Auf ihrem Gesicht lag eine Schicht aus Schweiß. »Hab keine Angst«, flüsterte sie dann. »Frauen können die schlimmsten Schmerzen aushalten. Du wirst es selbst eines Tages merken.« Dann schrie sie wieder: »Scheiße!«

    Ich hatte in verschiedenen Fernsehsendungen schon Geburten gesehen, und normalerweise schrien die Frauen dort ein paarmal; manchmal fluchten sie auch, was dann mit einem Piepen zensiert wurde, aber niemals dauerte es länger als eine halbe Stunde. Nach drei Stunden schrien meine Mutter und die »Melvyns« immer noch im Takt. Das ganze Geburtszentrum kam mir vor wie ein tropischer Regenwald, obwohl es draußen nur etwa fünf Grad hatte.
    Henry kam vorbei. Als er eintrat und den Krach hörte, blieb er wie angewurzelt stehen. Ich wusste, dass diese ganze Sache mit dem Kinderkriegen ihm einen Riesenschreck einjagte. Ich hatte einmal gehört, wie sich meine Eltern darüber unterhielten und auch darüber, dass Henry sich so lange geweigert hatte, erwachsen zu werden. Beide waren heilfroh gewesen, als er und Willow wieder zusammenkamen. »Endlich ein vernünftiger Mensch in Henrys Leben«, hatte meine Mutter gesagt.
    Henry schaute mich an. Sein Gesicht war bleich, und auf seiner Stirn bildeten sich Schweißtropfen. »Herrgott, Mia. Willst du dir das wirklich anhören? Will ich mir das anhören?«
    Ich zuckte mit den Schultern. Henry setzte sich neben mich. »Ich habe eine Erkältung oder so was in der Art. Aber dein Dad hat mich angerufen und gesagt, ich soll etwas zu essen vorbeibringen. Und hier bin ich«, sagte er und präsentierte eine Papiertüte mit Tacos, aus
der es nach Zwiebeln stank. Meine Mutter stieß ein Stöhnen aus. »Ich sollte gehen. Ich will doch hier keine Bazillen verbreiten.« Meine Mutter kreischte auf, und Henry hopste erschrocken in die Höhe. »Bist du sicher, dass du hierbleiben willst? Du kannst mit zu mir kommen. Willow ist da und passt auf mich auf.« Er grinste, als er ihren Namen aussprach. »Sie kann auch auf dich aufpassen.«
    »Nein, schon in Ordnung. Mom braucht mich. Und Dad ist irgendwie nicht ganz beieinander.«
    »Hat er schon gekotzt?«, fragte Henry und setzte sich wieder hin. Ich lachte, aber dann sah ich in sein Gesicht und erkannte, dass er es ernst meinte.
    »Er hat sich übergeben, als du geboren wurdest. Er wäre beinah ohnmächtig geworden. Ich kann es ihm nicht verübeln. Er war nur noch ein Häufchen Elend, und die Ärzte wollten ihn rauswerfen – sie sagten, sie würden es tun, wenn du nicht innerhalb einer halben Stunde geboren würdest. Darüber wurde deine Mom so sauer, dass sie dich fünf Minuten später herauspresste.« Henry lächelte wieder und lehnte sich auf dem Sofa zurück. »Jedenfalls erzählt man sich das. Aber ich kann dir eins versichern: Er hat geheult wie ein kleines Baby, als du auf

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