Wenn Ich Bleibe
schon getan, als er noch ein Baby war. Ich habe auf den Tag gewartet, an dem er mich abwehrt und mir sagt, dass ihm das peinlich ist, so wie er
meinen Vater tadelt, wenn er ihn zu lautstark bei seinen T-Ball-Spielen anfeuert. Aber bisher hat er es immer zugelassen. Bisher war mir die Berührung dieses Kopfes erlaubt gewesen. Bisher. Jetzt gibt es kein »bisher« mehr. Es ist vorbei.
Ich stelle mir vor, wie ich ein letztes Mal mit diesen Locken schmuse, und ich kann es nicht, ohne mich dabei weinen zu sehen. Meine Tränen benetzen die blonden Haare.
Teddy wird niemals dem T-Ball entwachsen. Er wird niemals Baseball spielen. Er wird niemals einen Schnurrbart tragen. Niemals eine Prügelei ausfechten, niemals einen Hirsch erlegen, niemals ein Mädchen küssen, Sex haben, sich verlieben, heiraten, eigene Kinder mit blonden Locken zeugen. Ich bin nur zehn Jahre älter als er, aber es kommt mir so vor, als hätte ich so unendlich viel mehr in meinem Leben erfahren dürfen. Es ist ungerecht. Wenn einer von uns hätte zurückbleiben dürfen, wenn einer von uns die Aussicht auf mehr Leben hätte bekommen dürfen, hätte er es sein sollen.
Ich hetze durch das Krankenhaus wie ein wildes Tier, das man in einer Falle gefangen hat. Teddy? , rufe ich. Wo bist du? Komm zurück zu mir!
Aber er wird nicht zurückkommen. Es ist sinnlos, ich weiß es. Ich gebe auf und schleppe mich zu meiner Intensivstation zurück. Ich will die Tür einschlagen. Ich will den Schreibtisch der Aufsicht zertrümmern. Ich will, dass alles verschwindet. Ich will verschwinden. Ich
will nicht hier sein. Ich will nicht in diesem Krankenhaus sein. Ich will nicht in diesem erstarrten Zustand sein, in dem ich sehen kann, was passiert, in dem ich mir bewusst bin, was ich fühle, ohne es wirklich zu spüren. Ich kann nicht schreien, bis mir die Kehle schmerzt, kann nicht das Fenster mit der Faust einschlagen, sodass ich mir die Hand aufschneide, kann mir nicht die Haare in Büscheln ausreißen, bis der Schmerz auf meiner Kopfhaut den in meinem Herzen übertrifft.
Ich starre mich an, die »lebendige« Mia, die in ihrem Krankenhausbett liegt. Ich verspüre eine unbändige Wut. Wenn ich könnte, würde ich meinem eigenen reglosen Ich ins Gesicht schlagen.
Stattdessen setze ich mich auf einen Stuhl und schließe die Augen, wünsche mir, dass alles vergeht. Aber es funktioniert nicht. Ich kann mich nicht konzentrieren, weil es plötzlich so laut ist. Meine Monitore piepen und surren, und zwei Schwestern kommen zu mir gerannt.
»Puls und Sauerstoff fallen!«, schreit eine.
»Sie hat Herzrasen«, ruft die andere. »Was ist passiert?«
»Code blau, Code blau auf der Intensiv«, plärrt der Assistenzarzt.
Kurz darauf kommt ein Arzt herein. Seine müden Augen, aus denen er sich den Schlaf reibt, sind von dunklen Ringen unterlegt. Er schlägt die Bettdecke zurück und zieht meinen Krankenkittel hoch. Von der
Taille abwärts bin ich nackt, aber niemand achtet darauf. Er legt mir die Hand auf den Bauch, der hart und geschwollen ist. Seine Augen weiten sich und verengen sich dann zu Schlitzen. »Der Unterleib ist hart«, sagt er wütend. »Wir müssen einen Ultraschall machen.«
Schwester Ramirez läuft zu einem Hinterzimmer und rollt ein Gerät heraus, das so aussieht wie ein großer Laptop mit einem langen, weißen Schlauch, an dem eine Art Scanner hängt. Sie drückt ein durchsichtiges Gel aus einer Flasche auf meinen Bauch, und der Arzt fährt mit dem Scanner über meinen Leib.
»Verdammt. Voller Flüssigkeit«, sagt er. »Die Patientin wurde heute Morgen operiert?«
»Ihr wurde die Milz entfernt«, erwidert Schwester Ramirez.
»Vielleicht ein Blutgefäß, das versehentlich nicht verschlossen wurde«, sagt der Arzt. »Oder irgendein Leck in einem inneren Organ. Autounfall, richtig?«
»Ja. Die Patientin wurde heute Morgen eingeliefert.«
Der Arzt betrachtet sich meine Krankenkarte. »Doktor Sorensen ist ihr Chirurg. Er ist noch im Dienst. Piepen Sie ihn an, sagen Sie ihm, er soll in den OP kommen. Wir müssen sie aufschneiden und nachschauen, wo das Leck ist, und vor allem warum, bevor sie uns wegrutscht. Meine Güte, Schädelprellung, kollabierte Lunge … das Mädchen ist ein totales Wrack.«
Schwester Ramirez schießt dem Arzt einen bösen Blick zu, als ob er mich gerade beleidigt hätte.
»Miss Ramirez«, sagt die mürrische Oberschwester von ihrem Schreibtisch aus. »Sie haben Ihre eigenen Patienten, um die Sie sich kümmern müssen. Lassen Sie die
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