Wenn Ich Bleibe
junge Dame intubieren und in den OP bringen. Das wird ihr mehr nützen als dieses Herumtrödeln.«
Die Schwestern beeilen sich, um meinen Körper an die Monitore und Katheter anzuschließen, und schieben mir einen Schlauch in die Luftröhre. Zwei Pfleger kommen mit einer Rollliege herein und heben mich darauf. Ich bin immer noch von der Taille abwärts nackt, als sie mich hinausschieben, aber gerade bevor ich durch die Tür geschoben werde, ruft Schwester Ramirez: »Moment!« Dann zieht sie mir sanft den Kittel über den Leib bis zu den Beinen. Mit dem Finger tippt sie mir dreimal leicht auf die Stirn, als ob sie mir einen Morsecode übermitteln will. Und dann bin ich weg, werde durch den Irrgarten aus Fluren in Richtung OP gefahren, für eine neuerliche Runde Aufschneiden, Abtupfen, Zusammennähen. Aber diesmal gehe ich nicht mit. Diesmal bleibe ich auf der Intensivstation.
Langsam begreife ich. Das heißt, ich verstehe nicht alles. Es ist nicht so, dass ich diesem Blutgefäß irgendwie befohlen hätte, zu platzen und in meinen Bauch zu bluten. Es ist nicht so, dass ich es auf eine neue Operation angelegt hätte. Aber Teddy ist tot. Meine Eltern sind tot. Heute Morgen saß ich im Auto und machte
einen Ausflug mit meiner Familie. Und jetzt bin ich hier, so allein wie noch nie in meinem Leben. Ich bin siebzehn Jahre alt. So sollte es nicht sein. So sollte sich mein Leben nicht entwickeln.
In einer stillen Ecke der Intensivstation fange ich an, über die bitteren Dinge nachzudenken, die ich bislang erfolgreich ignoriert habe. Wie wäre es, wenn ich mich entscheiden würde zu bleiben? Wie würde es sich anfühlen, als Waise aufzuwachen? Niemals mehr den Pfeifentabak meines Vaters zu riechen, niemals mehr gemeinsam mit meiner Mutter das Geschirr zu spülen und mit ihr zu reden? Niemals mehr Teddy ein Kapitel aus Harry Potter vorzulesen? Hierzubleiben, ohne sie?
Ich bin mir nicht sicher, ob dies noch eine Welt ist, in die ich gehöre. Ich bin mir nicht sicher, ob ich aufwachen will.
Ich war erst einmal bei einer Beerdigung, und da war der Verstorbene jemand, den ich kaum gekannt habe.
Ich wäre vermutlich auch zu Großtante Glos Beerdigung gegangen, die an Magenkrebs starb, aber in ihrem Testament hatte sie deutlich festgelegt, wie sie sich ihr Begräbnis vorstellte: Sie wollte weder einen Gottesdienst, noch wollte sie im Familiengrab beigesetzt werden. Stattdessen verlangte sie, eingeäschert zu werden. Die Asche wurde dann später in einer heiligen Zeremonie der Ureinwohner irgendwo in den Bergen der Sierra Nevada verstreut. Meine Großmutter war deswegen
ziemlich verärgert, aber Tante Glo hatte auch schon zu Lebzeiten ihren Zorn auf sich gezogen. Meine Großmutter meinte, sie hätte immer versucht, Aufmerksamkeit zu erregen, indem sie sich anders benahm als andere Leute. Und das tat sie auch noch nach ihrem Tod. Meine Großmutter boykottierte die Zeremonie der Ascheverstreuung, und da sie nicht hinging, gab es für uns auch keinen Grund dazu.
Peter Hellman – Peter. Posaune. Ontario -, mein Freund aus dem Sommercamp, starb vor zwei Jahren, aber das erfuhr ich erst, als ich wieder ins Camp kam und er nicht da war. Keiner von uns wusste, dass er an Lymphknotenkrebs gelitten hatte. Das war das Komische am Sommercamp: Man stand einander während des Sommers so nah, aber es gab ein ungeschriebenes Gesetz, wonach man während des restlichen Jahres keinen Kontakt zueinander pflegte. Wir waren Sommerfreunde. Wir hielten zu Peters Ehren einen Gedenkgottesdienst im Camp ab, aber es war keine richtige Trauerfeier wie bei einem Begräbnis.
Kerry Gifford war ein Musiker, einer von den Freunden meiner Eltern. Anders als mein Vater und Henry, die, als sie älter wurden und Familien gründeten, weniger Musik machten, dafür die Musik aber umso mehr genossen, blieb Kerry Single und seiner ersten Liebe treu: dem Musikmachen. Er spielte in drei Bands und verdiente sich als Tontechniker in einem Klub seinen
Lebensunterhalt. Das war sehr praktisch, weil ständig mindestens eine seiner Bands dort spielte, sodass er nur auf die Bühne zu steigen brauchte und seine Arbeit am Mischpult in dieser Zeit jemand anders übergeben konnte, obwohl man ihn manchmal mitten in einem Auftritt von der Bühne springen sah, um selbst nach dem Rechten zu sehen. Ich hatte Kerry bereits gekannt, als ich klein gewesen und mit meinen Eltern zu den Shows gegangen war, und später, als Adam und ich zusammenkamen und ich wieder anfing, zu
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