Wenn ich dich gefunden habe
Mutter zu erzählen, dass sie sich tatsächlich etwas eingefangen hatte, nämlich das Stanley-Flinter-Virus. Sie musste ständig an ihn denken, und wann immer sie das tat, lächelte sie, selbst wenn es keinen logischen Grund dafür gab, so wie vorhin im Taxi. »Sie schweben wohl gerade auf Wolke sieben, hm?«, hatte der Fahrer gefragt, als er vor ihrem Haus angehalten hatte.
Sie hatte genickt. Leugnen hatte keinen Zweck.
Selbst als sie mit einem Zwanziger bezahlen wollte und er ihr sagte, er habe kein Wechselgeld, weshalb sie ihm fünf Euro Trinkgeld geben musste (und das, obwohl sie fast pleite war), lächelte sie noch. Ihre Gesichtsmuskeln schmerzten richtiggehend in dieser ungewöhnlichen Position.
»Mir ist bloß warm«, beruhigte sie ihre Mutter. »Und Angel hat Marmelade eingekocht? Es geht ihr also etwas besser?« Die Hoffnung durchzuckte sie wie ein Stromschlag.
»Geh rauf und frag sie selber«, sagte Mrs. Flood, und ihr Lächeln – ein richtiges Lächeln, mit Zähnen und sogar einem Hauch rosa Zahnfleisch – spiegelte sich im silbernen Teekessel.
Dara raste im Schweinsgalopp die Treppe hinauf.
Angel saß in ihrem Zimmer auf dem Boden und legte
eine Patience. Sie trug richtige Kleidung. Von Mrs. Floods altersschwachem Morgenmantel war weit und breit keine Spur. Und es war auch keine Musik zu hören – weder Joy Division noch Leonard Cohen, weder Morrissey noch Radiohead noch The Smiths. Im weichen Schein der Nachttischlampe wirkte die Atmosphäre im Zimmer ungewohnt euphorisch. Sie erinnerte Dara an Angel – an die alte Angel.
Als die Tür aufschwang, hob Angel den Kopf und schob die eselsohrigen Karten beiseite. »Dara! Du bist zurück!« Sie war blasser und dünner, als Dara sie in Erinnerung hatte, aber das konnte auch an den Kleidern liegen. Dafür war ihr vertrautes breites, warmes Lächeln wieder da.
»Ja, ich …«
»Ich freue mich so, dich zu sehen.«
»Ich freue mich auch.«
»Du hast mir gefehlt.«
»Ehrlich?«
Statt zu antworten griff Angel nach dem Bettpfosten und zog sich daran hoch. Sie öffnete den Mund, sagte aber nichts, sondern machte einen Schritt auf Dara zu und umarmte sie. So verharrten sie eine Weile, obwohl sie sich sonst nur höchst selten grundlos berührten, und Dara hatte flüchtig das Gefühl, dass nichts Schlimmes geschehen konnte, solange Angels Arme, so dünn wie die Schnüre eines Fallschirms, sie umfingen und wie früher vor der harschen Realität beschützten.
Angels Haare sahen strohig aus, als wären sie luftgetrocknet worden, ohne Föhn, ohne Haarspray, ohne Festiger und dergleichen, aber sie waren gewaschen, und das war schon eine erhebliche Verbesserung.
»Tut mir leid, dass ich Mr. Flood nicht gefunden habe«, flüsterte Dara.
»Mir tut es auch leid«, sagte Angel.
»Ich hätte nicht nach Paris fliegen sollen. Es war eine Schnapsidee, die nur falsche Hoffnungen bei dir geweckt …«
»Nein, das meine ich gar nicht. Ich meine ganz allgemein, dass es mir leidtut.«
»Was?« Dara löste sich von Angel und sah sie an.
»Alles. Mein Verhalten und all die Dinge, die ich dir an den Kopf geworfen habe. Das war unverzeihlich.«
»Aber du hattest recht«, erinnerte Dara sie.
»Ich hätte sie trotzdem nicht sagen dürfen.«
Dara entging nicht, dass Angel nicht auf ihren Einwand einging, und das bestärkte sie in ihrem Entschluss. Sie hatte zu lange gewartet. Sich zu viele Sorgen gemacht. Sie hatte angenommen, es gelte Risiken zu vermeiden, wie man Schlaglöcher vermeidet. Sie hatte nie bedacht, dass jedes Risiko auch eine andere Seite hatte, eine positive: Einen Endorphinrausch, dessen Wucht sie taumeln ließ, ja, sie regelrecht umfegte. Der ihr den Atem und die Sinne raubte.
Angel musterte sie. »Du siehst toll aus. Was hast du gemacht?«
Dara nickte. »Ich hab mir ein Beispiel an dir genommen. Was das Leben angeht, meine ich. Ich werde mir nicht mehr ständig Sorgen machen. Ich werde es zumindest versuchen.«
Diese Neuigkeit musste Angel erst einmal verdauen. Sie betrachtete Dara etwas ängstlich, als fürchtete sie, zu weit gegangen zu sein. Dara erkannte sich in ihrer besorgten Miene wieder. »Du wirst doch hoffentlich nichts Unüberlegtes tun, oder?«
»Du meinst, Bungee Jumping oder Sushi essen?« Dara hegte ein tief verwurzeltes Misstrauen gegen Sushi. Rohe
Karotten, das ging ja noch, aber roher Fisch, das war zu viel.
»Äh, zum Beispiel, ja«, sagte Angel, obwohl sie zweifellos weder von Sushi noch von Bungee Jumping geredet
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