Wenn ich dich gefunden habe
Menschen brüllten.
»Nein«, erwiderte Anya fest. »Wir hatten doch abgämacht.«
Wieder Rascheln, als gäbe es am anderen Ende der Leitung ein Handgemenge, dann ein Plumps – vermutlich Tintin, denn Anya war ungewöhnlich kräftig. Erneut aufgeregtes Geflüster und ein tiefes Seufzen, das Dara eindeutig Anya zuordnen konnte, denn Anya stieß ständig tiefe Seufzer hervor. Dann das verärgerte Gebell von Rocky, dem kleinsten Hund im Asyl. Tintin nannte ihn den kleinen Kläffer mit der großen Schnauze, was für Dara wie der Untertitel eines Disney-Films klang.
»Dara?« Anya hatte sich durchgesetzt. Dara sah vor ihrem geistigen Auge, wie sie mit dem rechten Arm Tintin im Schwitzkasten festhielt, während sich Rocky in die Armbeuge des linken kuschelte.
»Was ist passiert, Anya?«, fragte Dara. »Du hast doch selbst gesehen, wie gut sich Lucky entwickelt hat. Er hätte niemandem etwas getan. Jemand muss ihn provoziert haben.«
Wieder seufzte Anya brunnentief. »Sie kamen in SUV.«
»Wer?«
»Die Familie von Mädchen. Die Kleine hattä Nintendo DS. Ihr Bruder auch«, zischte Anya. SUVs und Nintendos waren für sie praktisch Teufelswerkeug.
»Und?«
»Erzähl ihr das mit dem Stock!« Tintins Stimme klang gedämpft, als würde ihm Anya den Mund zuhalten, was nicht auszuschließen war.
»Ja, erzähl mir das mit dem Stock«, forderte Dara.
»Kleines Mädchen hattä Stock«, räumte Anya prompt ein.
»Einen großen Stock«, ergänzte Tintin.
»Ätwa zwanzig Zentimetär lang.« Anya war wie immer um eine detailgetreue Darstellung bemüht.
»Anya, würdest du mir bitte Tintin geben?«, bat Dara. »Ich glaube, das würde die Sache vereinfachen.«
Brunnentiefer Seufzer. »Äs wird nichts am Ergebnis ändern.«
»Schon klar.« Dara wusste, dass Anya derartige Entscheidungen nicht leichtfertig traf.
Tintin grunzte, als Anya ihn losließ. »Eine impertinente kleine Göre war das«, stieß er hastig hervor. »Ist mit ihrem Stock an den Käfigen langgelaufen und hat einen Heidenkrach gemacht. Vor allem auf Lucky hatte sie es abgesehen.«
»Warum habt ihr sie nicht daran gehindert?«
»Wir waren mit ihren Eltern beschäftigt, die sich für die arme kleine Fleur interessiert haben. Die Mutter liebt Pilates und fand die Vorstellung lustig, einen Hund zu haben, der ebenfalls Pilates kann. Wir haben erst gesehen, was dieses kleine Luder gemacht hat, als wir uns die Aufnahmen der Videoüberwachungsanlage angeschaut haben.«
»Und weiter?«
»Sie hat den Stock zwischen die Gitterstäbe gesteckt und Lucky geschlagen. Dann hat sie ihn fallen lassen und in den Käfig gegriffen, um ihn aufzuheben, und da hat Lucky sie gebissen.«
»Aber …«
»Ich weiß, die Kleine hatte es nicht anders verdient, aber das war schon das zweite Mal, und im Grunde ist Lucky nicht vermittelbar. John sagt, wir haben keine andere Wahl …«
»Das tut er immer«, wandte Dara verzweifelt ein.
»Ich weiß, Dara«, sagte Tintin. »Aber diesmal …«
»Är muss auf die Bank.« Anya war wieder am Apparat, ihre Stimme so klar wie eine Glocke. »Äs tut mir leid, Dara.«
»Ich weiß. Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast.«
»Wir machän äs morgen früh. Ich kümmerä mich darum. Du nimmst dir den Vormittag frei.«
»Nein, schon gut, Anya. Ich kann …«
»Ich bästehe darauf«, beharrte Anya mit ihrer ruhigen, gesetzten Art.
»Okay«, sagte Dara. »Dann sehen wir uns … danach.«
»Bye, Dara«, sagte Anya knapp und legte auf.
55
Es war Angels Idee, und natürlich gelang es ihr, Dara davon zu überzeugen. So war es immer schon gewesen.
»Wir können doch nicht einfach reinstürmen und ihn mitnehmen«, ereiferte sich Dara. »Das ist bestimmt Einbruchdiebstahl und weiß der Geier was noch alles.«
»Quatsch. Du hast einen Schlüssel, verdammte Hacke. Und man kann wohl kaum von Diebstahl reden, wenn das, was man stiehlt, im Morgengrauen gar nicht mehr existieren soll.«
»Nix Morgengrauen. John wird erst gegen elf kommen. An solchen Tagen bringt er immer Brötchen mit. Dieses Schwein.«
»Du weißt schon, was ich meine.« Angel beugte sich über Dara und öffnete die Autotür. »Los, steig aus. Zeit für ein bisschen Action.«
»Aber wir können doch nicht einfach reinmarschieren und ihn entführen. Was sollen wir denn überhaupt mit ihm machen?«
Angel musterte sie entnervt. »Na, was wohl. Wir nehmen ihn mit nach Hause, füttern ihn mit dem Hundeeintopf, den du immer machst und überreden Ma, ihm für jeden Wochentag
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