Wenn ich dich gefunden habe
geschwellter Brust neben seinem Werk.
»Ich übernehme das«, sagte Tintin, der bereits in der Schublade mit den Tüten und der Schaufel kramte.
»Du solltest zumindest darüber nachdenkän, Dara«, sagte Anya und legte ihr eine warme Hand auf den Arm.
»Ach, ich weiß nicht recht …«
»Das solltest du wirklich«, sagte Tintin und ging vor dem Haufen in die Knie.
Dara räusperte sich. »Ich glaube, das Nachdenken würde mir bedeutend leichter fallen, wenn ich dabei wenigstens eine einzige Zigarette rauchen könnte.«
»NEIN!«, riefen Anya und Tintin im Chor. Und damit war das Thema abgehakt.
Ich kann die Tage nur am Essen unterscheiden. Heute muss Samstag sein, denn es gibt einen Eintopf, den sie Irish Stew nennen. Er schmeckt kein bisschen wie der Irish Stew meiner Mutter, Gott hab sie selig. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich schon hier bin. Hab den Überblick verloren. Es sind sicher schon ein paar Wochen, wenn nicht gar Monate. Lange jedenfalls. Die Minuten und Stunden verschmelzen zu Tagen, die Tage zu Wochen. Oder Monaten, wer weiß. Die Zeit verrinnt unerbittlich, immer weiter.
Wenigstens ist es hier warm, und es gibt täglich drei Mahlzeiten. Ich kann nicht mehr allein essen. Schwester Fidelma füttert mich wie ein Baby. Sie ist flink. Effizient. Möchte wetten, dass sie Kinder hat. Wenn mir der Haferbrei aus den Mundwinkeln läuft, fasst sie rasch mit dem Löffel nach und schiebt ihn wieder hinein. Ihre großen Hände bewegen sich sicher und geschwind. Ist sicher hilfreich, wenn im Notfall eine Frau wie sie zur Stelle ist. Sie hebt meinen Kopf mit einer ihrer großen Hände an und boxt mit der anderen auf mein Kissen ein, als hätte es ihr einen Bärendienst erwiesen. Ihre Brüste sind groß und hängen tief; die Sorte, die man mit beiden Händen anheben muss. Die Erregung, die meinen Körper früher oft gepackt hat, ist verebbt, wie alles andere auch. Diese Zeiten sind längst vorbei.
Sie wäscht mich im Bett. Der Schwamm fühlt sich weich und warm auf meiner Haut an. Ihre Bewegungen sind schnell. Sparsam. Sie summt verhalten eine Melodie, die ich nicht kenne. Ihre Fingernägel sind kurz und quadratisch. Ein dicker Goldring schnürt das Fleisch an ihrem Ringfinger ein. Den werden sie nicht so leicht runterkriegen, wenn ihre Zeit kommt. Der Schwamm verschwindet zwischen meinen Beinen, Schwester Fidelma summt gleichgültig weiter. Ist ja nichts Besonderes. Nur ein alter Schwanz, der dort liegt und wartet.
Sie kämmt mir die letzten verbliebenen Haarsträhnen über den Kopf. Rasieren muss sie mich nicht. Es gab eine Zeit, da musste ich mich zweimal täglich rasieren. Jetzt werde ich einmal die Woche rasiert, ob es nötig ist oder nicht.
Sie tritt einen Schritt zurück, betrachtet mich, nickt.
Ihr windschiefes Wägelchen rattert, als sie es davonschiebt.
In vier Stunden gibt es Abendessen. Ich liege da und warte. Um mir die Zeit zu vertreiben, sehe ich aus dem Fenster. Der Himmel über Manchester ist hellgrau und dunkelgrau, genau wie dieses Gebäude. Gut möglich, dass es später Regen gibt. Ich schließe die Augen. Mir scheint, je weniger ich mich bewege, desto müder werde ich.
Ich bin wie ein altes Haus, von dem nur noch Schutt übrig ist. Die Leute sehen die Lücke, die sich an meiner Stelle aufgetan hat. Sie kratzen sich am Kinn, schütteln den Kopf und versuchen, sich in Erinnerung zu rufen, was dort früher einmal war.
12
Keiner konnte so richtig nachvollziehen, was Dara Flood an Ian Harte fand. Zugegeben, für einen Mann mittleren Alters mit Glatzenansatz war er nicht unattraktiv. Er hatte schon einen leichten Guinness-Bauch, und aus seiner ansonsten makellosen Nase lugten ein paar schüchterne Härchen hervor, aber er musste gut betucht sein, schließlich fuhr er einen Mercedes-Jeep und trug steife Anzüge von Louis Copeland.
»Är ist alt«, bemängelte Anya.
»Älter«, korrigierte Dara sie. »Er ist noch keine fünfzig.«
»Wird er aber bald«, erinnerte Tintin sie.
»Fünfzig ist das neue vierzig«, erklärte Dara. »Und du sagst doch selbst immer, das Alter ist bloß eine Zahl.«
»Das gilt nur bis zum dreißigsten Geburtstag«, erwiderte Tintin. »Wenn man mit Riesenschritten auf die fünfzig zugeht, wird es zur Todesfalle.«
Doch ihre Beziehung mit Ian Harte, sofern man überhaupt von einer Beziehung sprechen konnte, entsprach genau Daras Vorstellungen. Er war oft geschäftlich unterwegs, denn er arbeitete für eine ausländische Bank im International Financial
Weitere Kostenlose Bücher