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Wenn ich dich gefunden habe

Wenn ich dich gefunden habe

Titel: Wenn ich dich gefunden habe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ciara Geraghty
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ohne sie zu schütteln.
    Auf dem Nachhauseweg stellte sie fest, dass sich ein seltsames Gefühl in ihr breitmachte. Es hätte glatt Optimismus sein können, oder zumindest ein entfernter Verwandter davon. Sie wusste nicht recht, warum. Vielleicht war es darauf zurückzuführen, dass sie Miss Pettigrews
Rat befolgt und die ersten Schritte gewagt hatte, hinaus in das große Abenteuer, das man Leben nennt. Vielleicht lag es auch daran, dass sie glaubte, bei Stanley Flinter, all seinen Vorbehalten zum Trotz, unter der skeptischen Oberfläche eine unaufgeregte Zuversicht in Bezug auf die Suche nach ihrem Vater ausgemacht zu haben, die sich auch auf sie übertragen hatte. So hoffnungsfroh war sie lange nicht mehr gewesen.
    Was auch immer der Auslöser für dieses Gefühl gewesen sein mochte, es tat gut. Sie beschloss, es festzuhalten.

    Pater Michael kommt fast jeden Tag vorbei. »Wollen Sie irgendwelche Sünden beichten?«, fragt er. Das ist immer seine erste Frage. Er spricht dröhnend laut und unmelodisch.
    »Unkeusche Gedanken, Pater Michael«, sage ich.
    »Du meine Güte, und das in Ihrem Alter? Sie Glücklicher.« Er setzt sich auf die Bettkante und befingert die Perlen des Rosenkranzes, den er in den Händen hält.
    Er weiß nicht, wie alt ich bin, aber ich weiß, dass ich jünger bin als er denkt. Die monatelange Therapie hat die letzten Spuren meiner selbst aus meinem Gesicht verbannt. Ich weiß nicht, wer dieser alte Mann ist, der mir aus dem fleckigen Badezimmerspiegel entgegenstarrt. Meine Züge sind verwässert. Verwischt. Ich versuche, nicht hinzusehen, aber manchmal kann ich nicht anders. Es ist, als würde ich einen Fremden betrachten. Am schlimmsten ist es bei den Augen, die fast unter ihren Schlupflidern verschwinden. Das dunkle Blau, nach dem die Frauen früher so verrückt waren, ist verblasst. Meine Hände zittern, wenn ich das Gesicht mit ihnen bedecke. Diese Hände haben die Hügel
und Täler vieler Frauenkörper erkundet. Allmählich entfallen mir die Namen dazu, und schon bald werde ich sie alle vergessen haben und meine eigenen Geschichten nicht mehr glauben.
    Heute erscheint Pater Michael in Begleitung eines Mannes, der ein Maßband um den Hals trägt. Ich kenne den Burschen.
    »Lassen Sie mich in Ruhe«, sage ich zu ihm. »Sie kriegen mich noch früh genug.« Ich weiß, Leichenbestatter ist ein Job wie jeder andere, aber dieser Bursche erinnert mich mit seinen Knopfaugen und der Hakennase an einen Aasgeier, der auf einer Telefonleitung hockt und wartet. Pater Michael nickt ihm zu, und der Mann verzieht sich mit einem flüchtigen, nervösen Lächeln.
    »Er muss nach nebenan. Mr. …« – Pater Michael konsultiert ein schmales schwarzes Notizbuch – »Jones ist in der Nacht bedauerlicherweise von uns gegangen«, flüstert er mir zu.
    Pater Michael sagt nie »gestorben«. Vielleicht findet er es ja etwas taktlos in Anbetracht der nur allzu offensichtlichen Vergänglichkeit seiner Klientel.
    »Der Glückliche«, sage ich.
    »Jetzt ist er erlöst«, stimmt mir Pater Michael zu und nickt ein bisschen öfter als nötig.
    »Würden Sie mir meine Jacke geben?«, bitte ich ihn, und er greift danach und legt sie mir um die Schultern.
    »Besser?«, fragt er, und ich nicke schweigend. Ich kannte Mr. Jones so gut, wie man sich in dieser gottverlassenen Institution eben kennt. Er hat gern gelesen. Die Klassiker. Ich nehme mir vor, gelegentlich an ihn zu denken und mir dieses Detail in Erinnerung zu rufen.
    Es dauert eine Weile, aber schließlich gelingt es mir, meine
Jacke zuzuknöpfen. Ich stelle den Kragen auf. Es gibt Tage, da wird mir einfach nicht warm, obwohl es auf unserer Station oft heiß und stickig ist.
    Ehe sich Pater Michael wieder auf die Socken macht, erbietet er sich, mir etwas aus der Bibel vorzulesen. Etwas Tröstliches aus dem Neuen Testament. Vom Apostel Paulus vielleicht. Als ich ihm sage, wo er sich die Bibel hinstecken kann, reagiert er erstaunlich gelassen für einen Geistlichen. Lächelt nur und sagt: »Dann bis morgen.«
    Ich brauche keine Chemotherapie mehr. Ich muss nur noch warten. Ich wünschte, es würde nicht so lange dauern. Unser ganzes Leben lang rasen die Gedanken auf uns zu wie Lastwagen auf einer Autobahn. Und bei einem Mann wie mir tun Gedanken dem Körper nicht gut. Ganz und gar nicht.
    »Morgen geht es Ihnen bestimmt besser, Mr. Waters«, sagt Pater Michael, obwohl wir beide wissen, wie unwahrscheinlich das ist. Ich schweige. Er nickt mir zu, dreht sich um und

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