Wenn ich dich gefunden habe
gewiss, doch Daras Herz klopfte plötzlich wie verrückt, rasend schnell und so laut, dass es die Musik übertönte. Sie wirbelte herum, aber hinter ihr stand nicht ihr Vater, sondern bloß Charlie-nenn-mich-Charles.
»Dara Flood, meine Süße! Wenn du gelegentlich ein Kleid tragen würdest, bräuchten wir hier keinen Defibrillator«, säuselte er und trat zu ihr.
»Charlie!« Dara streckte ihm die Hand hin. Er sah viel eher wie ein Charlie aus als ein Charles. Seine Haare waren stets einen Tick zu lang, und seine Hose spannte wie immer über … den Oberschenkeln.
»Bitte, Dara, nenn mich Charles.« Er zwinkerte ihr zu und beugte sich über sie, um ihr einen Kuss auf die dargebotene Hand zu hauchen. »Wo steckt denn deine reizende Frau Mutter?«
»Sie … äh …« Dara verzog das Gesicht, als Mrs. Flood sie unter dem Tisch ins Schienbein boxte.
»Na ja, egal. Bitte entschuldige mich«, unterbrach Charlie
sie. »Ich sehe gerade die arme Mrs. Moran, die kürzlich ihren Mann verloren hat. Ich gehe gleich mal zu ihr rüber und spreche ihr mein Beileid aus. Ein schöner großer Sch…« Er brach ab, abgelenkt von einer Tänzerin, deren Brüste aussahen, als könnten sie ihr bei jeder Bewegung aus ihrem Dekolletee purzeln. Dann wurde sie von der Menge verschluckt, und Charlie seufzte und widmete seine Aufmerksamkeit wieder Dara. »Wo war ich gerade?«
Dara zögerte einen Augenblick. »Beim schönen großen … äh …«
»Ach, richtig. Ein schöner großer Schoppen macht doch jeden Verlust erträglicher«, schloss er und spähte erneut zu der unglücklichen Witwe hinüber.
Sobald er weg war, kroch Mrs. Flood unter dem Tisch hervor. »Also, so habe ich mir meinen Freitagabend nicht vorgestellt. In einem Punkt muss ich Charlie allerdings recht geben …«
»Nämlich?«
»Du solltest öfter mal ein Kleid tragen und deine schlanken Beine herzeigen. Und deinen ansehnlichen Busen. So eine Verschwendung. Früher oder später wird die Schwerkraft unerbittlich zuschlagen, und dann ist es zu spät.« Mrs. Flood schüttelte den Kopf und zog ihre Strickjacke enger über ihren üppigen Vorbau, der schon vor Jahren ein Opfer der Schwerkraft geworden war.
Wer sagt’s denn. Das war doch ein Gespräch, noch dazu eines, in dem es weder um Angel noch um Nieren ging. Es war nicht berauschend, aber immerhin ein Anfang. Dara gab sich einen Ruck.
»Was ich dich schon lange fragen wollte, Mam …«
»Ja?« Mrs. Flood sah sie nicht an, sondern beobachtete die Tänzer.
»Hast du nie in Erwägung gezogen, dir wieder jemanden zu suchen?«
»Was meinst du?«
»Ich meine … Du weißt schon, nachdem dich Mr. Flood verlassen hat. Viel später. Hast du je …«
Mrs. Flood straffte die Schultern. »Ich bin eine verheiratete Frau.« Sie tastete nach ihrem Ehering, an dessen Innenseite die Worte »Für Kathleen, meine Liebste« eingraviert waren, auch wenn man sie inzwischen kaum noch entziffern konnte. Sie spielte geistesabwesend damit. »Heutzutage mag das keine große Rolle mehr spielen, aber ich habe jemandem die Treue geschworen, und dieser Schwur hat etwas zu bedeuten. Für mich jedenfalls.«
Dara beschloss, es anders anzugehen. Sie überraschte sich selbst, indem sie ihrer Mutter eine Frage stellte, die sie schon lange beschäftigte.
»Warum hast du ihn eigentlich nie als vermisst gemeldet?«
Mrs. Flood riss den Kopf hoch. Ihre Augen funkelten, ihr Gesicht war dunkelrot angelaufen.
»Bei der Polizei, meine ich?«, hakte Dara so beiläufig wie möglich nach.
»Hätte ich das deiner Meinung nach tun sollen?« Mrs. Floods Stimme klang hoch. Gepresst. Als würde sie jemand würgen.
»Nein, ich wollte damit nicht sagen, dass …«
»Hätte es deiner Meinung nach eine Fahndung geben sollen? Eine Art Verbrecherjagd?«
»Nein, das natürlich nicht, aber …«
»Hätte man den St. Anne’s Park durchkämmen, mit Stangen das hohe Gras durchforsten sollen?«, stieß Mrs. Flood abgehackt hervor. Verbittert. Zynisch.
»So war das gar nicht gemeint …«
»Er ist einfach gegangen, Dara.«
»Ich weiß. Das hast du uns erzäh…«
»Es ist nicht so, als wäre er verschleppt worden.«
»Ja, aber …«
»Er hat sich bewusst entschieden, nicht zurückzukommen.«
Daras Entschlossenheit wankte, schwand dahin. Ein letzter Rest war noch übrig. »Aber wie konntest du das wissen? Ich meine, wie konntest du da so sicher sein?«
»Ich hab’s gespürt. Ich war schließlich live dabei. Du warst damals noch gar nicht auf der
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