Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
dennoch eine Limousine. Glücklich, dass uns nun eine solche Ehre zuteil wird, lassen wir uns mit großem Pomp zur Big Texan Steak Ranch kutschieren.
Es ist ein phantastisches, riesiges Lokal, das Hunderte von Menschen verköstigen kann. Als wir eintreten, ist es schon voll, der Geruch von gegrilltem Protein ist überall. Ein Tisch in der Mitte des Lokals ist für den Fleischfresser-Wettbewerb reserviert. Sie bringen dir ein zwei Kilo schweres gigantisches Steak, und wenn du es aufisst, musst du nicht bezahlen. Einige Kraftprotze blicken niedergeschlagen und entmutigt auf ihre Portion, die einfach kein Ende nehmen will.
Wir setzen uns mit unserem Teller an einen Tisch. Ein Musikerduo tritt näher, zwei alte Männer, Violine und Gitarre, warme Klänge, unvergessliche Stimme. Wir klatschen begeistert, und bald schon hat sich unser Steak verflüchtigt. Noch mehr Beifall spenden wir der Menge, die einen wilden Country tanzt, die Cowgirls sind bildschön, sprühen vor Energie, zeigen ein strahlendes Lächeln.
»Andre, sollen wir mittanzen?«
»Nein, nein«, antwortet er, wenn auch amüsiert.
Bevor wir gehen, setzen wir uns für ein Foto auf einen hölzernen Stuhl von zyklopischen Ausmaßen, auf dem wir aussehen wie zwei Zwerge, die darauf warten, dass Schneewittchen kommt und ihnen einen Gutenachtkuss gibt.
Welcher Tag ist heute?
Als ich bei der Abfahrt den Motor anlasse, lächelt der Besitzer des B&B und schickt Andrea zu Ehren eine Salve von Bam-bam-tapum in die Luft.
Akustisches Feuerwerk.
Auf der Landkarte schien Santa Fe so nah, doch die Strecke zieht sich endlos. Es ist heiß, wir haben Durst. Andrea wird nervös. In der Ferne glitzert etwas. Wie ein riesiger Spiegel. Es ist keine Fata Morgana, sondern ein See. Als wir näher kommen, entdecken wir am Ufer ein Gewimmel wie von Ameisen und erkennen schließlich, dass der See dicht von Badenden und kühnen Springern bevölkert ist. Unwiderstehlich: In null Komma nichts sind wir ausgezogen, hängen unsere Kleidungsstücke ans Motorrad, so dass es wie ein Camper aussieht. Ungestüm laufen wir aufs Wasser zu und rennen beinahe ein Grüppchen junger Mädchen um.
»Hey, du langer Lulatsch«, schreit eine davon Andrea nach, weil er über die Decke getrampelt ist, auf der sie liegt.
»Dich meine ich!«
Andrea sieht sie kaum an, bleibt aber stehen, denn die Stimme klingt gebieterisch. Das Mädchen steht auf, und er rennt wieder los, Richtung Wasser.
»Rüpel!«
»Tut mir leid«, mische ich mich ein.
»Samstags hat man hier einfach keine Ruhe«, protestiert das Mädchen.
»Samstag? Ist heute Samstag?«
»Ja, wo kommt ihr denn her? Aus China?«
Ich rufe Andrea, er soll sich entschuldigen. Er hat sich verhalten wie ein Trampeltier, wenn auch unabsichtlich.
Ich stelle ihn vor: Meine Damen, Andrea bittet um Verzeihung. Vor allem, weil Samstag ist. Für uns hätte auch Mittwoch sein können. Oder Montag.
»Andrea, ist heute Mittwoch oder Montag?«
»Montag.«
»Sie behaupten, es sei Samstag.«
»Bisschen schon.«
Die Wochentage haben für uns jede Bedeutung verloren.
Erfrischt fahren wir weiter auf der welligen Linie, die sich vor uns erstreckt und irgendwo in der dürren Weite verliert. Ziemlich lange finden wir kaum etwas zu essen, nur beim Tanken kann man gelegentlich Eis und Popcorn kaufen. Vermutlich sind nur wilde Tiere, verirrte Seelen und arbeitslose Mechaniker auf dieser Route unterwegs.
Wir brausen an Kuppen vorbei, die aussehen wie Schädel mit ein paar Haarbüscheln darauf, eine Hand halte ich immer am Gashebel, die andere in die Luft gestreckt, um einen Hauch Kühle zu erhaschen. Mit gutem Grund haben die beiden Rider uns ausgelacht, als ich sagte, die Wüste sei leer. Wir durchqueren karge, darbende, aber nicht leere Gebiete. Es ist die Abwesenheit von Menschen, die uns Leere empfinden lässt, die Weite, die uns ein wenig verunsichert.
Ich zeige auf den Himmel. Welche Farbe hat er?
»Blau.«
»Und das Gebirge?«
»Dunkelblau.«
Mir scheint es graugrün zu sein. Was sieht Andrea eigentlich? Sollten auch seine Sinne Seitenwege einschlagen und mit ihm Verstecken spielen? Ich versuche mir vorzustellen, wie es sich anfühlt, einen Filter vor den Augen zu haben, der andauernd die Wahrnehmung des Lichts verändert. Was für ein verzwicktes Geheimnis, in einem Strudel zu leben, der das Leben dauernd durcheinanderwirbelt und es unkenntlich macht. Ich begreife sein Bedürfnis, sich an Bezugspunkte zu klammern, man kann sich ja nicht immerzu an
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