Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
einem Tag wie ein Afrikaner am Nordpol und am nächsten wie ein Eskimo in der Wüste von Namibia fühlen.
»Und der Sand?«
»Braun.«
»Nicht gelb?«
»Braun.«
»Und wie ist die Farbe dieser Landschaft insgesamt?«
»Schön.«
Ich fühle Andreas stumme, überaus starke Präsenz, mehr brauchen wir nicht, wir sind erfüllt von Emotionen, die von Worten nur geschmälert werden können. Wir sind außerordentlich leicht. Ich fahre langsamer. Noch langsamer. Andrea lehnt den Kopf an meine Schulter, als wollte er gern eine Geschichte hören.
»Was gibt’s, Andre?«
»Die Mädchen.«
»Was für Mädchen?«
»Die schönen Mädchen.«
»Sollen wir über Mädchen reden?«
»Mädchen, Papa.«
So kommt es, dass ich mit ihm über Sexualität spreche, als ob es etwas wäre, was wir entlang der Straße sehen: Oh, schau mal, Andre, ein Kaktus, ein See, ein Windstoß! Ich spreche mit ihm über Masturbation, über Frauen, über die Liebe. Ich spüre, wie ihn das elektrisiert, er ist mir ganz nah. Ich rede, ohne seine Fragen zu kennen. Es ist immer schwierig, mit seinen Kindern über Sexualität zu sprechen, wie sehr erst mit einem autistischen Sohn. Ich hoffe einfach, dass ich mich seinem Empfinden annähere.
Andrea umarmt mich, küsst mich auf die Schulter, auf die Wange. Vielleicht will er sich auf diese Weise bedanken, vielleicht ist es eine Wirkung dieser flüssigen Freiheit, die uns umgibt. Er breitet die Arme aus, lässt sich von der Luft streicheln. Ich beschleunige wieder.
Als wir Santa Fe erreichen, ist die Hitze unerträglich, die Leute bewegen sich so wenig wie möglich. Die Erschöpfung macht sich in einer sanften Mattheit bemerkbar: Wir haben unendliche, felsige Weiten durchquert. Ich sehe zu, wie Andrea auf einen Zug eine erste Flasche Wasser leert, dann eine zweite. Die dritte nehme ich ihm aus der Hand. Wie macht er das nur? Ein Dromedar, das ist er.
Die Wüste, das Dromedar, der Autismus.
New Mexico
Immer wieder schleicht sich die Wüste in meine Gedanken ein. Die Assoziation zwischen Wüste und Autismus ist unmittelbar. Der Mangel an Beziehungen, die scheinbare Gleichförmigkeit. Die Stille. Die Reduktion auf das Wesentliche. Das Leben, das sich, weit entfernt von der Üppigkeit der Wälder, im Sand und in Felsspalten mühsam durchsetzt, das keine Tarnung und extreme Anpassung scheut, das akzeptiert, Teile von sich einzubüßen, um nur ja zu bestehen.
Dennoch kann auch die Wüste kein Ort absoluter Einsamkeit sein. Wenn du dort wohnst, brauchst du auf jeden Fall Nachschub an Lebensmitteln, Treibstoff, ein paar Telefongespräche, hier und da einen kleinen Schwatz. Du bist auf gute Freunde angewiesen, musst den nettesten Tankwart finden. Vielleicht ist Autismus eine anfangs sehr feindselige, fordernde, grausame Wüste, und du durchquerst sie, ohne zu wissen, ob du genügend Wasservorräte dabeihast, ob es dir gelingt, ihre Geheimnisse zu ergründen, ob du das Wesentliche erfasst.
Um in Andreas Wüste einzudringen, habe ich oft versucht, sein Verhalten nachzuahmen: auf der Stelle hüpfen, fest die Hände reiben, von einem Punkt zum anderen rennen und gleich wieder zurück, schräg schauen. Das ließ heftige Gefühle aufbrechen, und ich musste damit aufhören, weil mir so dicke Tränen kamen, dass ich sie nicht zurückhalten konnte. Ich bin auch auf Zehenspitzen gegangen, habe in der Bar auf Zehenspitzen meinen Espresso getrunken. Wahrscheinlich wirkte dieses Benehmen exzentrisch, ja überheblich, aber ich wollte wissen, welche Gedanken einem kommen können, wenn man von oben auf die Welt herabsieht. Und stellte fest: Es ist einfach nur anstrengend, man hält es nicht lange aus, nach kürzester Zeit verkrampfen sich die Waden. Beim ersten Mal habe ich kaum fünf Minuten durchgehalten.
»Fahrt nicht nach Los Alamos!« Der Tankwart an der Kasse schien keine Widerrede zu dulden.
Okay, ich weiß: Da wurde die erste Atombombe gebaut.
»Das wissen sogar die Touristen. Aber ist der Schaden erst angerichtet, lässt er sich nicht so leicht wiedergutmachen. Da wird Plutonium gelagert.«
»Verstehe…«
Wir haben Los Alamos gemieden und uns nur eine kleine Spazierfahrt von einhundertfünfzig Kilometern im »Land of enchantment« gegönnt, Richtung Colorado. Die Atombombe im Land der Verzauberung.
Dann Ebenen und Hügel von herzerfrischender Schönheit, überall Bauernhöfe und frei laufende Pferde. Wir haben uns gefühlt wie eines von ihnen.
In Taos befinden wir uns plötzlich im Wilden Westen, in
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