Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
schließlich mit gesenktem Kopf in einem kleinen Kreis. Er fühlt sich beobachtet.
Eine Frau streckt den Arm aus und lässt ihre Hand vibrieren, die anderen tun es ihr nach: Ein leiser Gesang ertönt.
Mit einem Ruck springt Andrea auf einen Wohnwagen zu, er hat ein schiefes Ofenrohr entdeckt, das er unbedingt geraderücken muss.
Die Frauen tuscheln miteinander.
Ich nähere mich, versuche, eine der alten Frauen zu fragen, ob sie etwas gesehen oder gespürt haben.
Die Frau antwortet, aber ich verstehe sie nicht.
Ich sehe mich nach Hilfe um, doch die Kinder sind weit weg.
»Was habt ihr gesehen?«, dränge ich. »Autistic guy«, füge ich noch hinzu, aber das sind nur sinnlose Laute für sie. Sie sehen mich durchdringend an. Eine Frau tippt mir mit der Fingerspitze aufs Herz, und eine andere hält mir an einem Band ein kleines Amulett hin. Sie deutet auf Andrea, es ist ein Geschenk für ihn. Bevor wir wieder aufs Motorrad steigen, hänge ich es ihm um den Hals.
Indianer im Wohnwagen.
Amerikaner im Wohnwagen haben wir viele gesehen. Gerade sind wir ein Stück Straße entlanggefahren, an dem auf Pfählen zahlreiche Briefkästen standen, ein vor bewegliche Häuser gepflanzter Wald. Andere Briefkästen halten Wache vor verwaisten Stellplätzen, die kaum größer sind als eine Briefmarke.
Neugierig haben wir angehalten und nachgesehen, manche der Kästen quollen über von Post. Ich war fasziniert. All diese Briefe würden vielleicht nie gelesen werden oder, wenn doch, erst nach Jahren. Worte, die noch reifen. Vielleicht auch verlorene Zeilen voller Liebesschwüre und inständiger Bitten, die am falschen Ort gelandet sind. Die Briefträger haben nicht das Herz, sie wegzuwerfen, und bringen sie hierher: auf den Friedhof der Botschaften, die dazu bestimmt sind, niemals gelesen zu werden.
»Sollen wir auch einen Brief einwerfen, Andre?«
Andrea bejahte. Er wirkte so überzeugt, dass ich nach Papier suchte und nahm, was ich gerade zur Hand hatte: ein paar alte Post-its, und unten im Rucksack lag zufällig noch eine leere Tüte. Ich riss sie auf und strich sie ordentlich glatt. Dann nahm ich einen Stift. Was willst du schreiben? Andrea zögerte.
»Keine Wörter? Willst du Farben?«
»Farben schön.«
Es standen uns Zahnpasta und ockerfarbene Erde zur Verfügung. Mit etwas Wasser begannen wir zu mischen, Andrea war begeistert und rührte eine nach Minze duftende Malcreme von undefinierbarer Farbe an. Ich legte die Papierstücke nebeneinander, und er malte dichte parallele Striche mit einem Häkchen untendran: wie lauter Schirmgriffe. Mit dem Stift schrieb ich das Datum dazu. Am Ende verteilten wir diese Botschaften auf mehrere Briefkästen. Sie erzählen davon, dass wir hier vorbeigekommen sind.
Dann sah ich einen verblassten blauen Briefkasten. Ohne nachzudenken schob ich einen von Andreas Texten hinein.
Andrea, erinnerst du dich, wie ich unterwegs mit dir über das Leben gesprochen habe, über die Zukunft und über die Dinge, für die du dich mehr anstrengen müsstest? Was hältst du davon?
andrea hört was papa sagt ich versuche jeden tag meinen geist anzustrengen kämpfe aber umsonst bin verzweifelt über meinen autismus
hilfe brauche ich
Was könnte dir helfen?
nicht zu viele forderungen ich habe mühe so viele befehle auszuführen
kopfweh
papa entschuldige ich kann meinen körper nicht kontrollieren
Entschuldigungen bringen nichts.
weiß ich
du musst mein unbehagen verstehen unter starkem druck bin ich
Willst du, dass ich über etwas nachdenke?
ich bin gefangen in gedanken an die freiheit
andrea will gesund werden
ciao
Auto- und Busschlangen kündigen an, dass wir uns dem Grand Canyon nähern. Andrea küsst mich mehrmals auf die linke Wange, vielleicht, um sich für dieses traumhafte Panorama zu bedanken.
Wir überholen eine Unmenge Touristen und stellen uns an, um einen Blick von der Aussichtsterrasse zu werfen.
Das Gedränge macht Andrea fertig. Er kann die Arme nicht ausbreiten, er kann nicht hüpfen, wird geschubst. Aus dem Abgrund steigen Gravitationswellen herauf, die seine Gedanken erwischen. Das reicht, wir haben genug gesehen vom Grand Canyon.
Auch weil die legendäre Route 66 auf uns wartet.
»Andre, wir sind auf der Route sixty-six.«
»Sisti si.«
»Und wir wissen nicht, wohin…«
»…wir gehen.«
Wir kommen durch Dörfer, die aussehen wie in den fünfziger und sechziger Jahren, Elvis ist allgegenwärtig, und auch die Leute scheinen noch in dieser Zeit zu leben – lauter alt gewordene
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