Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
aus Plastik an sich, als wäre es ein Plüschtier.
Ich beobachte seine Gebärden, auch den unsteten Blick, und erkenne die Merkmale des Autismus. Die Hände bewegt der Junge genau wie Andrea, auch das Rucken des Kopfes ist symptomatisch. Ich bin fassungslos, ja entsetzlich wütend – wie ungerecht kann das Leben denn noch sein? Zu all dem Elend auch noch Autismus! Ein Unglück kommt selten allein…
Ich schnappe nach Luft, blicke mich ungläubig um. Fragend sehe ich die Erwachsenen an und hoffe, dass sie mir gleich versichern werden, dass der Junge nicht sein gesamtes Leben zwischen dem Bett und den Pfosten verbracht hat. Nein, nein, denke ich: Irgendwo habt ihr einen alten Jeep, den ich übersehen habe, und wahrscheinlich versteckt ihr ihn, damit der Fiskus euch nicht draufkommt, ihr habt einen Jeep, ladet den Jungen ein und dreht jeden Tag eine Runde im Urwald, blickt in die Baumkronen hinauf, folgt den Papageien, und der Junge streckt die Hände nach ihnen aus. An schönen Tagen, wenn ihr nicht durch den Wald fahrt, sitzt der Junge in einem bequemen Sessel in der Sonne und winkt den Autos, die Lastwagenfahrer halten an und erzählen, was in der Welt draußen passiert, denn sie sind freundlich und haben es nicht eilig, er hört zu und lächelt gelegentlich. Am allermeisten aber wünsche ich mir, dass hier immer die Sonne scheint, weil ja nicht auszudenken ist, wie es hier aussieht, wenn es regnet. Wenn ihm nichts anderes übrigbleibt, als brav auf seiner Matratze zu liegen, die wie ein Floß im Wasser schwimmt, während die Erwachsenen sich abhetzen, um den Lebensunterhalt zusammenzukratzen, und er nur seine Matrosen herbeirufen kann: zu Hilfe, zu Hilfe, alle Mann an Bord, und eilig kommen die zwei Schweine gerannt, versuchen, den Anker zu lichten und seine Seele zu retten. Mich schaudert. Ich bin zutiefst entsetzt.
Die Männer erzählen uns, dass Jorge zweiundzwanzig Jahre alt ist, aber ich kriege nicht heraus, wessen Sohn er ist, denn ich verstehe sie nur ungefähr. Alle drei sind sehr liebevoll zu ihm. Ich umarme ihn, und eine Welle von Empfindungen überrollt mich. Und er? Er lacht. Ja, er lacht. Verfluchter Jorge, denke ich, da bist du so übel zugerichtet, und dann diese glückstrahlenden Augen. Als erzählten wir dir wer weiß welche Witze oder Märchen oder als wären wir in deinen Augen sonderbare Vögel, wie du sie noch nie gesehen hast. Er lacht von Herzen, wir stehen in einer armseligen Hütte und fühlen uns, als seien wir zu einem Geburtstagsfest eingeladen.
Andrea hat unterdessen ein paar Sachen in Ordnung gebracht, einen alten zerfledderten Kalender geradegerückt und in einer Dose mit Schrauben und Schraubenmuttern gewühlt. Außerdem hat er uns alle mehrmals umarmt. Sein Blick ist höchst aufmerksam, wer weiß, welche Fotos er gerade aufnimmt.
Vielleicht ist es die entwaffnende Einfachheit der Männer, vielleicht sind es die erwiderten Umarmungen, Jorges Augen, das träge Schwanken der Schweine – die Zeit rast jedenfalls. Ich fühle mich Teil einer kleinen Gemeinschaft von Brüdern. Wir können uns nicht losreißen und bleiben den ganzen Vormittag. Der Abschied ist schwer. Wir lassen ein bisschen Geld da und einige T-Shirts für Jorge. Sie haben um nichts gebeten und bedanken sich, als hätten wir ihnen ein Stück Himmel beschert.
Auf dem Rest der Fahrt drückt uns eine Last das Herz ab, wir fühlen uns wie gelähmt, auch Andrea hat sich tief in sich zurückgezogen. Dann taucht plötzlich eine ganz gewöhnliche Tankstelle auf, als wäre nichts geschehen.
Die Grenze von Panama macht sich bemerkbar, bevor wir sie sehen. Jede Menge Autos und die ältesten Lastwagen der Welt, die verlorenen Auspufftöpfe am Straßenrand lassen sich gar nicht zählen. Die Mechaniker- und Reifenbuden auch nicht. Überall Stände, die alles und jedes feilbieten, ein unglaubliches Gewimmel, Kinder, die Fußball spielen zwischen Autos, die ungeduldig hupen, Hühner, die wild umherrennen, als seien sie gerade unter den Röcken der Frauen hervorgescheucht worden, und alte Weiblein, die unbeirrt dasitzen und auf wer weiß was warten. Eine geballte, vorwärtsdrängende Menge, so weit das Auge reicht. Der Grenzübergang ist nah und mit ihm Kontrollen und bürokratisches Ungemach. Eine Hitze wie im Backofen, doch noch lästiger ist der Lärm: Gemurmel, Geschrei, Geplauder, dröhnende Motoren, schrille Hupen, gerupfte Hühner, eine ohrenbetäubende Kakophonie. Und wir eingekeilt mittendrin. Um sich verständlich zu
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