Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
sich alle Pfefferkörner vereinigen würden? Jede Ameise ist wie eine Körperzelle, zusammen sind sie eine riesengroße Genossenschaft. Deshalb haben sie eine große Zukunft vor sich…«
»Wir wären nicht gerne Teil eines Superorganismus«, sage ich, aber ich begreife die Begeisterung der jungen Forscher durchaus.
Während wir noch plaudern, wird es unvermittelt Nacht, als hätte man einen Rollladen heruntergelassen. Keine Dämmerung, kein gelbes Ampelsignal: Hier ist es entweder hell oder dunkel, dazwischen gibt es nichts. Wo ist eigentlich Andrea abgeblieben? Hat ihn der jähe Lichtwechsel erschreckt? Da ich ihn nicht sehe, gehe ich ins Dorf hinein, wo viel los ist. Schweigend bereiten die Indios die Kanus für die Krokodiljagd vor. Schon bald finde ich Andrea wieder, der sorglos in der Dunkelheit herumgelaufen ist und einen seiner freien Momente genossen hat.
An Bord herrscht eine sonderbare Stimmung, und obwohl sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, ist selbst der paddelnde Steuermann kaum wahrnehmbar. Die Indios, die jeden Winkel des Flusses kennen, springen ins Wasser, wenn sie zwei rote Pünktchen sehen – die Augen eines Krokodils. Sie fangen nur solche, die unter einem Meter lang sind, und müssen so flink wie möglich mit einer Hand das Maul und mit der anderen den Schwanz festhalten. Sonst setzt es Bisse. Jetzt hieven sie ein erstes Krokodil ins Boot. Wir Landratten, höchstens an den Umgang mit Katzen und Kanarienvögeln gewöhnt, zucken ganz schön zusammen. Wir lassen es von Hand zu Hand gehen und befolgen aufmerksam die Anweisungen der Indios, aber es ist, als reichte man sich als Friedenszeichen eine Handgranate weiter. »Bitte, Andre«, flüstere ich, »halt dich mit Küssen zurück.«
Belustigt schauen die Indios zu, wie ungeschickt und plump wir uns anstellen bei unserem Versuch, uns für ein paar Stunden in Naturburschen zu verwandeln. Eins ist klar: Diese Welt ist weder roh noch primitiv, man muss alle Sinne schärfen, sich tarnen.
Bei unserer Rückkehr versammelt sich das ganze Dorf, etwa fünfzig Personen. Andrea berührt alle.
Maria, ein besonders hübsches Mädchen, streicht scheu, aber neugierig um ihn herum. Die Erwachsenen geben uns zu verstehen, dass sie leicht schwerhörig und nicht ganz richtig im Kopf ist. Sie sagen es ganz ungeschminkt, ohne Beschönigung. Maria läuft hin und her, spricht wenig und lacht sehr viel. Auch an ihr erkenne ich, wenngleich in schwächerer Form, die Symptome des Autismus. Sie läuft hinter uns her, und als wir versuchen, uns mit ihr zu verständigen, starrt sie uns mit großen, weit aufgerissenen Augen an. Sie ist wie hypnotisiert von Andreas Bewegungen und folgt ihm auf dem Fuß.
Ein paar Dorfkinder wagen sich bis zu der Hütte vor, in der wir übernachten, und wollen, dass Andrea mit ihnen spielt. Jede seiner Gesten wird mit Jubel begrüßt. Aufgeregt nehmen sie ihn in ihre Mitte, eine kleine Horde, die unablässig durchs Dorf galoppiert, Andrea und Maria vorneweg, alle anderen hinterher. Ein fröhliches Karussell.
Wenn ich Andrea in den Pausen in der Schule besuchte, fand ich ihn in einer Ecke des Hofes. Immer in derselben Ecke, immer allein, fuchtelte er mit den Armen herum und hüpfte auf Zehenspitzen. Mit seinem Popcorn, seinen Mandarinen oder einem Päckchen Grissini. Die Lehrer erzählten mir eifrig, ob es ein guter oder schlechter Vormittag gewesen war. Ich hörte zu, doch ganz abgesehen vom jeweiligen Tagesverlauf verletzte es mich, Andrea so zu sehen. Zu wissen, dass die anderen eine Gruppe bildeten und er nicht dazugehörte. Ich erfuhr, dass manche Klassenkameraden zu ihm kamen und immer wieder fragten: »Wie viel ist eins und eins? Los, eins und eins, das ist doch ganz leicht!« Oder sie schubsten ihn und verspotteten ihn wegen seines sonderbaren Verhaltens. Mir war nicht einmal danach, sie zu tadeln, Anderssein wird seit je bestraft, wenn nicht per Gesetz, dann aus alter Gewohnheit. So läuft es, so bitter das auch klingen mag.
Und hier gleicht er einem Volkshelden!
Ich sehe, wie sie sich gegenseitig blaue Striche auf die Arme und ins Gesicht malen: Andrea ist im siebten Himmel.
Zum Abschluss des Abends sitzen wir noch vor der Hütte: die Drillinge aus Berlin, die zwei Kanadierinnen mit ihrem Freund, der brasilianische Tourist, die beiden Reiseleiter aus Manaus und ich. Sprachen, Akzente und Eindrücke mischen sich.
»Was machen wir morgen?« Portugiesisch mit hörbar deutschem Akzent.
»Morgen Delphine.«
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