Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
Läuterndes.
In Panama Viejo weckt ein kolossales Fußballspiel unsere Neugier, teuflisch schnelle Füße an einem zerfetzten Ball. Gegen Abend steigen wir zu den Gärten von Ancón hinauf und überblicken die Stadt wie von einem Kirchturm aus.
Ich lege mich auf den Rasen. In der Tasche sticht mich Joanas Brief. Andrea hüpft und gibt sich seinen Ritualen hin. Die Leute beobachten ihn, manche lachen wie bei einer Zirkusnummer.
Ich schließe die Augen und höre rund um mich lauter unbekannte Stimmen. Meine Phantasie macht sich selbständig. Ich sehe Andrea in einer Küche mit einer Frau und einem Kind, Andrea, wie er Geschirr spült, die Waschmaschine anstellt, Andrea, wie er das Kind im Arm hält, die Frau, die ihn an der Hand nimmt, und das Kind, das hinter Andrea herläuft, während er lachend davonrennt.
Manchmal finde ich es eine Ungeheuerlichkeit, dann wieder so normal: Warum sollte Andrea kein Kind haben? Er ist hübsch, stark, lächelt immer, reagiert nie bösartig, wenn ihm etwas nicht passt… Wer möchte nicht gern so einen Mann? Oder so einen Vater? Ich würde ihn lieben, wenn ich sein Sohn wäre.
Falls er mir eines Tages diesen Wunsch zu erkennen gäbe, hätte ich gern die nötige Kraft, Klarsicht und Sensibilität, um seinem Traum Flügel zu verleihen. Gewiss, es wäre eine noch wichtigere und aufregendere Reise als die, die wir gerade erleben. Aber manche Reisen beginnen nicht erst mit der Abfahrt. Sie beginnen früher. Viel, viel früher…
Ich ziehe den Brief heraus, halte den Umschlag gegen das Licht, schnuppere sogar daran: Ich denke an Andreas Texte. Manchmal kostet es unendliche Anstrengung, auch bloß ein paar Worte zu schreiben. Eine ganz und gar vergebliche Anstrengung, wenn sie bei niemandem ankommen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass wir den Boten spielen sollen. Vielleicht muss es so sein. Ja, Andrea muss den Brief überbringen. Verdammtes Brasilien, konntest du nicht etwas näher sein?
Methode
Gestern Abend war ich sehr streng zu Andrea: »Morgen früh, wenn du aufstehst:
– fang nicht mit deinen Riten an
– mach nicht die Reißverschlüsse auf
– räume nicht die Rucksäcke aus
– starre nicht ins Wasser im Klo
– wasch dir das Gesicht
– putz dir die Zähne
– zieh dich allein an, die Kleider sind im Schrank.«
Dann habe ich genau die Schritte der nächsten Tage aufgezählt: »Morgen nehmen wir das Flugzeug und
– fliegen nach Manaus
– suchen ein Hotel
– bleiben ein paar Tage dort
– und fahren dann an den Amazonas, in den Regenwald, aber nicht zu lange, denn danach
– müssen wir noch nach Arraial.«
Vielleicht wacht Andrea deshalb bester Laune auf. Dass ich ihm das heutige Programm ausführlich erklärt habe, hat ihn positiv gestimmt. Auch wenn ich wahrhaftig nicht weiß, was in den nächsten Tagen im Einzelnen passieren wird.
Frühstück und letzte Fahrt im Geländewagen, zum Flughafen. Während wir auf den Flug nach Manaus warten, kaufen wir einen Ersatz für einen unserer Rucksäcke, der völlig verschlissen ist. Er ist ja auch weit gereist und hat viel gesehen. Wir lassen ihn zurück wie einen Freund. Sorgfältig lege ich den Brief, den wir Roxana aushändigen sollen, in den neuen Rucksack.
Zum ersten Mal isst Andrea im Flugzeug alles, was sie uns servieren: Reis mit Huhn, seine Portion und die Hälfte von meiner, Karotten und Salat legt er obendrauf. Gewöhnlich mag er das abgepackte Flugzeugmenü nicht, doch heute ist er sehr gnädig. Wer weiß, was er ausbrütet.
Nach der Ankunft finden wir mühelos ein Reisebüro, und Herr Armstrong erläutert uns sein Angebot mit der gleichen Methode, die ich bei Andrea angewendet habe: »Ich buche euch:
– ein Hotel im Zentrum
– zwei Tage Regenwald
– eine Fahrt den Amazonas hinauf
– eine Übernachtung in einem Eingeborenendorf, wo ihr in so engem Kontakt mit der überwältigenden Natur seid, dass ihr Asphalt und Beton augenblicklich vergesst.«
»Perfekt«, sage ich.
Into the wild
Vielleicht hatte ich ihn aus dem Rucksack genommen und auf den Nachttisch gelegt. Ich weiß es nicht mehr. Und es ist auch völlig egal: Der Brief an Roxana ist in winzigen Fetzen über das ganze Zimmer verstreut. Andrea ist vor mir aufgewacht, eindeutig.
»Warum schon wieder?!«, brülle ich. »Den Brief hättest du nicht zerreißen dürfen!«
»Brief schön.«
»Von wegen, Brief schön! Und jetzt? Wie stehen wir jetzt da?!«
Ich sammle die Fetzen ein. Ich werde sie
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