Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
Stück für Stück wieder zusammensetzen. Es geht doch nicht, dass wir einen Brief, der uns anvertraut worden ist, in ein Häufchen Papierschnitzel verwandeln. Ich erkenne Silben, einen halben Konsonanten hier und einen halben da, sie passen nicht zusammen – Donnerwetter, Andrea, hättest du sie nicht noch kleiner machen können!? Nichts, ich kriege nichts zustande, und dann müssen wir das Hotel verlassen, weil es schon Zeit ist für den Ausflug in den Regenwald. Ich finde eine durchsichtige Plastiktüte, fülle die Briefatome hinein, sehe nach, ob auch nichts auf dem Fußboden liegengeblieben ist, und verstecke die Tüte im Rucksack.
Wir rennen los und finden die Expeditionsteilnehmer schon vor dem Reisebüro versammelt: ein Herr aus Brasilien, der seit zwanzig Jahren in Los Angeles lebt, wo er einen Irish Pub betreibt, und drei junge Kanadier: ein sehr netter Mann und zwei Frauen. Unser Reiseleiter mustert uns eingehend, und vor der Abfahrt empfiehlt er uns, uns mit Mückenschutzmittel einzudecken. Wir haben für das Amazonasgebiet keinerlei gesundheitliche Vorsorge getroffen, doch man beruhigt uns. Die Moskitos seien zwar ungeheuer lästig, aber weiter nichts. Genau wie das heftige Gewitter, das plötzlich über uns hereinbricht. Wir laufen von einem Geschäft zum anderen, um vor dem Regen zu flüchten und Mückenschutzmittel zu kaufen. Diese Aufgabe nimmt mich so in Anspruch, dass ich vergesse, mir für die Wiederherstellung von Joanas Brief Tesafilm oder Leim zu besorgen.
»Sucht den Landungssteg am Rio Negro«, hatte man uns gesagt, »dort wartet das Boot, das euch in den Regenwald bringt.« Ganz einfach, wenn man weiß, welches: Wir stehen vor einer endlosen Reihe von Booten mit Früchten, Geflügelkörben, Ziegen, Zementsäcken, alten Kompressoren und hageren Männern, die soeben zu irgendeiner Schwerarbeit aufbrechen. Zum Glück erkennt uns unser Kommandant und ruft laut unsere Namen.
Wir gleiten zwischen zwei Flüssen dahin, die sich berühren, ohne je ihre Wasser zu vermischen, der eine klar und durchsichtig, der andere trüb und düster. Ich stelle mir vor, dass es Wassertiere gibt, die hin und her schnellen, ich ahne das leise dumpfe Schlagen der Flossen in der dunklen Tiefe und die munteren Zickzackbewegungen im Hellen. Wie Andreas Welten. Ich starre ins Wasser, und mich schaudert.
Unvermutet steuert das Boot das Ufer an, wir sehen große Hütten. Die Indios empfangen uns freundlich, ohne jede Unterwürfigkeit, und kehren sofort zu ihren Tätigkeiten zurück. Um die Mittagszeit wird wie aus dem Nichts eine Mahlzeit herbeigezaubert: einfaches Mehl, Brunnenwasser und ausgezeichnetes Dörrfleisch. Während wir essen, machen die Männer die Kanus bereit, mit denen wir gleich zum Fischen fahren. »Piranha«, sagen sie.
»Andre, wir angeln Piranha.«
»Schön.«
»Wer?«
»Kinder.«
Ein Wirbel kleiner Beine fegt durch das Dorf und verschwindet.
Wir verbringen einen langen Nachmittag damit, Fische mit ziemlich spitzen Zähnchen an Bord zu ziehen, aber so schrecklich wie im Film wirken sie nicht. Beim Abendessen stoßen noch drei Deutsche zu uns, die seit einigen Wochen im Regenwald leben, zwei Jungen und ein Mädchen. Sie sind groß und zerzaust. Drillinge. »Wir sind Myrmekologen.« »Myrme- was?« – »Ameisenforscher«, erklären sie mir geduldig, und ich kann es kaum glauben, doch sie ziehen aus ihrem Rucksack kleine Behälter mit Insektenproben heraus. Sie erzählen, dass wir mitten im Reich der Ameisen seien, sie erreichten hier eine Rekorddichte. In der Tat, ich spüre es schon jucken.
Die beiden jungen Männer sind in die Gärtnerameisen verliebt, gerührt schildern sie mir, dass diese Ameisen auf den Bäumen eine Orchideenart züchten. Sie zeigen uns Fotos, als ob es sich um ihre Freundinnen handelte, Andrea nähert sich, wirkt aber gar nicht interessiert. Die Drillingsschwester wiederum erzählt, sie sei auf Kriegerameisen gestoßen, die mit ihrer Aggressivität sogar die Truppe des Spartanerkönigs Leonidas in Schwierigkeiten gebracht hätten.
Anscheinend lausche ich so gespannt, dass die drei restlos von ihrem ameisenkundlerischen Delirium überwältigt werden: Als handle es sich um die Offenbarung des Jahrhunderts, erklären sie mir mit feierlichem Blick, dass die Ameisen sich wie ein Superorganismus verhalten.
»Superorganismus? Aber wenn sie doch kaum halb so groß sind wie ein Pfefferkorn?«
»Können Sie sich vorstellen, was für ein explosives Gewürz dabei herauskäme, wenn
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