Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
»Wie neu«. Ich überrede den Mechaniker mit Lobeshymnen auf Ducati und Gilera, mir ein Motorrad auszuleihen. Ich streichle es gerührt.
»Wohin soll ich fahren, was raten Sie mir?«, frage ich. Er mustert mich und sagt: »Trancoso, das lohnt sich.«
Wieder on the road, wieder wir zwei allein. Die Reiselust kehrt zurück, ein Stück fahren, kurze Badepause, und weiter geht’s. Der Dorfplatz von Trancoso ist eine blühende Wiese, hier ist sich die Welt seit hundert Jahren gleich geblieben. Ich trinke einen wunderbaren Espresso, während Andrea ein Stück Schokoladenkuchen verschlingt.
Wir setzen uns auf eine Bank und betrachten die Menschen, als einige Männer in T-Shirts mit dem Aufdruck »Skilehrer« vorbeikommen. Skilehrer? Neugierig frage ich sie, was das zu bedeuten hat. Es stellt sich heraus, dass sie Italiener sind und den Skiclub Porto Seguro gegründet haben, der nichts zu tun hat mit Bergen, Schnee, Abfahrten auf malerischen Pisten und dem gebräunten, versnobten Lächeln jener Animateure, die Damen der besseren Gesellschaft begleiten. Es geht ihnen nicht um das richtige Setzen von Skistöcken, sondern um Solidarität.
»Willst du mitkommen, Yuri besuchen?«
Warum nicht? Wir lassen das Motorrad stehen und steigen in einen Kleinbus mit der Aufschrift »Skiclub«. Yuri ist ein kleiner Junge, der in einer Favela wohnt.
»Willst du wissen, welchen Preis Yuri gewonnen hat?«
Danke, ich werde es ja sehen, ich ahne schon, dass es wieder so eine Geschichte ist, die einem an die Nieren geht. Wir fahren durch eine Ansammlung von Baracken aus Holz, Eisen- und Plastikteilen, die mehr als einen Umzug und mehr als eine Müllkippe überlebt haben müssen.
»In den Favelas«, sagt einer der Skilehrer zu mir, »geht es zu wie in anderen Gegenden auch. Klar, mit der Rolex solltest du hier nicht rumlaufen. Wenn du zeigst, wie hoch dein Einkommen ist, wirst du gerupft. Es ist unnötig, die Menschen daran zu erinnern, dass sie im Leben nicht das große Glückslos gezogen haben. Das wissen sie sowieso.«
Wir halten vor einer kunstvollen Blechkonstruktion: Yuris Behausung. Du kannst noch so viel Phantasie haben, nie reicht sie aus, um dich auf die Tatsachen vorzubereiten. Der Junge ist vollständig bandagiert. Ich will den Namen der Krankheit gar nicht wissen. Was würde das ändern? Sie begrüßen sich, stellen uns vor. Andrea ist hinter mir, ein wenig versteckt. Wahrscheinlich haben sie Geschenkpakete dabei, denke ich, Lebensmittel, Medikamente, etwas Geld. Doch nein, heute geht es um geistige Aufmunterung. Die Hilfspakete kommen auf anderen Wegen. Yuri liebt Clownsnummern, die Witze, die Späße, die Knüffe und Püffe, das gespielte Wehgeschrei. Und die Skilehrer geben ihr Bestes. Der Kleine lacht Tränen über die Herren, die die Fernsehkomiker nachahmen. Es muss sich um Szenen handeln, die in bestimmten Sendungen vorkommen und die der Junge auswendig kennt. Man sieht es ihm an: Wenn er könnte, würde er sofort aufstehen und mit den Skilehrern herumhampeln. Auch die Eltern lächeln. Wer weiß, wie lange das schon nicht mehr vorgekommen ist.
Sie begleiten uns zurück zu der Stelle, wo wir das Motorrad geparkt haben. Wären wir jetzt noch mit unserer Harley in den Staaten, würde ich losbrausen und ein paar Kilometer über den Asphalt fegen. Aber im Reich der Schlaglöcher ist das nicht möglich. Seufzend liefern wir das Motorrad wieder beim Mechaniker ab, der nur ein bisschen Geld fürs Benzin haben will.
Versuchungen
Ein entschiedenes Klopfen an der Tür, dann auch ein leiseres Pochen kleiner Hände. Als ich öffne, steht draußen Tulio, der Hippie, mit einigen Kindern und einer Frau, die ich, scheint mir, noch nie gesehen habe. Sie fragen nach Andrea.
»Der Herr ist nicht zu Hause«, scherze ich. Es macht mir Spaß, mich ein bisschen aufzuspielen: Alle reißen sich um meinen Jungen! Doch er erscheint hinter mir mit einem Kochlöffel, den er irgendwo aufgestöbert hat. Er segnet uns. »Andrea, Andrea, komm mit!«, schreien die Kinder. Sie müssen Stände für heute Abend aufbauen, an denen sie dann alles verkaufen, was die Familien von Arraial ausrangiert haben: Nagelfeilen, gestopfte Socken, Bücher ohne Schluss, abgelegte Kleider… Es wird bestimmt superlustig, fügt Tulio hinzu.
»Andre, willst du mit Tulio mitgehen?«
»Tulio schön.«
»Gehst du mit?«
»Ja.«
Ich zögere. Tulio kann etwas Italienisch, sie werden sich schon verständigen. Auch Odisseu kennt ein Dutzend Wörter: sì, no, va bene,
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