Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
Widerschein.
Ich erkenne Andreas Farbkompositionen. Er hat fast die gesamte Fläche mit seinen Worten bedeckt: kalkweiß, chromgelb, flaschengrün.
»Die Idee stammt von Angelica«, erzählt mir Odisseu. »Sie hat Tulio zu Perpétuo geschickt, der früher die Häuser anstrich, sie meinte, er wird noch Farbe übrig haben, wenn er die Dosen nicht an der Sonne vergessen hat und sie nicht alt und vertrocknet ist wie er. Perpétuo hatte tatsächlich noch jede Menge Farbe, mit der er nichts mehr anfangen konnte, er streicht nämlich keine Häuserwände mehr, weil er alle Pinsel verbraucht hat. Dein Sohn ist ein Künstler!«, ruft Odisseu und klatscht in die Hände.
»Wo ist er jetzt?«
»Spazieren mit Angelica. Sie haben heute Nacht zusammen geschlafen, bestimmt sind sie gleich wieder da.«
»Wie meinst du das, sie haben zusammen geschlafen?«
»Bei mir zu Haus. Alles in Ordnung. Kein Problem.«
»Halt, warte mal. Was heißt kein Problem?«
»Sie haben geschlafen, sind aufgestanden, sind losgezogen…«
Es ist beinahe dunkel, besser, wir gehen ihnen entgegen. Wir finden sie nicht, bei uns zu Haus sind sie auch nicht. Sie werden irgendwo etwas essen. Wir kehren auf den Dorfplatz zurück, in den Lokalen keine Spur. Nichts. Langsam mache ich mir Sorgen. Odisseu ebenso. Wo mögen sie wohl sein?
Was weiß ich!? Am liebsten mag Andrea den Strand, auch nachts.
»Bloß das nicht!«, ruft Odisseu. »Der Strand ist nachts gefährlich für zwei Jugendliche allein.«
Beim Klang seiner Stimme saust mein Blutdruck hoch wie eine Rakete, und schon laufen wir beide zum Strand. In solchen Augenblicken kommen dir die schlimmsten Dinge in den Sinn: Entführungen, Morde, Organhandel. Die Panik steigt von Minute zu Minute. Als ich stehen bleibe, um Atem zu holen, fällt mir wieder ein, dass ich vor ein paar Tagen abends mit Andrea bis zu dem Flüsschen gewandert bin, das hier ins Meer mündet. Der Platz gefiel ihm unheimlich gut, den hat er sich sicher eingeprägt. Ich erzähle Odisseu davon, und wir rennen weiter, das Herz pocht uns bis zum Hals. Es ist eine wunderbare Mondnacht – und da sitzen sie: Andrea und Angelica, sie umarmt ihn, er hält ihr Gesicht in den Händen. Sie küssen sich und schauen sich an wie ein Liebespaar, vielleicht sind sie ja wirklich verliebt, in diesem Moment. Mir kommen die Tränen.
»Alles in Ordnung?«, rufe ich.
»Es ist so schön hier mit dem Mond«, sagt Angelica.
Die Angst ist wie weggeblasen. Andrea läuft mir entgegen. Ich umarme ihn, spüre seine Lebendigkeit, seine Energie. Angelica erzählt, dass Andrea sie an der Hand genommen und an diesen wunderschönen Ort geführt hat.
Bravo, Andre, du bist ein Romantiker und weißt, wo man mit Mädchen hingeht. Scherzend und lachend machen wir uns alle zusammen auf den Heimweg.
Angelica und Andrea gehen vor mir. Mir ist, als wüchsen mir Flügel.
Erdenbewohner
Die Beine holen mich aus dem Schlaf in den hellen Tag. Sie brennen und schmerzen, auch die Arme leiden nach unserer Fahrt am Strand. Ich steige aus dem Bett, will mich aufrichten, doch der Rücken macht nicht mit, riesige, abgrundtiefe Schlaglöcher haben mich gestern zweimal bös gestaucht. Die brasilianischen Schlaglöcher haben es in sich, das merkt man spätestens am folgenden Tag.
Aber gute Laune hilft, ich dehne und strecke mich wie eine Katze und fühle mich gleich wieder besser. Ich fange an zu hüpfen, mal auf einem Fuß, mal auf dem anderen, und so nähere ich mich Andreas Bett – er ist schon aufgestanden. Ich halte in meinem Tanz inne und blicke mich um.
Er hat etwas gegessen, die Haustür ist angelehnt. Es muss schon spät sein, der Schlaf hat mich überwältigt, weil ich von Glücksgefühlen wie betrunken war.
Ich spähe hinaus, der Himmel ist verhangen. Ein Schauer überläuft mich, aber nicht vor Kälte und auch nicht vor Sorge. Wie oft habe ich geträumt, sein Zimmer sei leer, und es bedeutete, dass alles gut war, dass er geheilt war: Es war ausgestanden, vorbei.
Während ich mich anziehe, läutet das Telefon. Das Reisebüro: Übermorgen gibt es einen Rückflug. Unwillkürlich seufze ich, und die Angestellte fragt mich, ob alles in Ordnung sei.
»Übermorgen ist perfekt«, erwidere ich.
Andrea steht zwischen den Bäumen ganz in der Nähe. Er sieht mich und kommt auf mich zu.
»Andrea, wir fahren bald nach Hause.«
Er sagt nichts, hält sich den Arm. Lächelt.
Wir gehen zum Strand. Andrea sieht Angelica und sprintet los. Was für eine Freude! Es ist zu schön,
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