Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
ihn so zu erleben. Ich lasse die beiden allein.
Odisseu finde ich im Restaurant; er fasst sich ein Herz und sagt mir, dass er Angelica versprochen hat, ihr heute Abend sein Haus zu überlassen.
»Sie möchte mit Andrea allein im Haus sein?«
»Das heißt, dass sie ihm vertraut.«
Ich schnaufe hörbar.
»Na, na«, brummt Odisseu, »mach nicht so ein Gesicht. Denk nur, Angelica hat Tulio sogar gebeten, ihr ein paar Sätze Italienisch beizubringen, damit dein Sohn sie besser versteht. Ist das nicht süß?«
»Was denn zum Beispiel?«
»›Kann ich mit dir reden?‹, ›Hörst du mir zu?‹, ›Darf ich dich streicheln?‹, ›Lass dich küssen‹, solche Sachen. Mach dir keine Sorgen. Vielleicht küssen sie sich, wie schon öfter. Vielleicht schlafen sie wie zwei Kinder. Vielleicht schauen sie sich einen Film an.«
Odisseu lacht schallend.
»Du lachst? Weißt du, was ich bei der Rückkehr aus Cumuruxatiba beschlossen hatte? Ganz offen mit Angelica zu sprechen… Ich hätte sie sogar bezahlt. Egal, wie viel. Hörst du, Odisseu? Das hätte ich getan! Ich schäme mich nicht! Das wirkt vielleicht armselig, aber ich hätte es getan!«
»Komm schon«, sagt Odisseu, »hör jetzt auf zu grübeln, lassen wir das Leben nur machen, es hat genug Erfahrung.«
»Dann können sie ja auch in Joanas Haus übernachten.«
»Ja, warum nicht. Und du und ich, wir ziehen durch die Gegend wie zwei Trottel.«
Ich genehmige mir einen Kaffee auf dem kleinen Platz von Arraial, und zwar allein.
Ich frage mich, ob Andrea mit einem Mädchen schlafen kann, ob er seine Sexualität entdecken und sie als etwas erleben kann, das ihm Befriedigung, wenn nicht gar Glücksmomente schenkt. Eine Landkarte, die einen vor Dummheiten bewahrt, ist nicht im Handel. Experten sagen, autistische Jugendliche interessierten sich nicht sonderlich für Sex, es sei eine zu intime Beziehung zum anderen. Das klingt ganz so, als hätten sie einen Brief aus jener Welt erhalten, in dem steht: »Wir interessieren uns nicht für Körper und Sex, wir mögen Primzahlen und abstrakte Malerei und rücken gern Zahnstocher gerade.« Ich habe keine Wahrheiten, doch brauche ich Andrea nur anzuschauen, um zu begreifen, dass er Triebe fühlt und Wünsche hat. Wenn wir offen über diese Themen sprechen, breitet sich ein Lächeln über sein Gesicht, das gar nicht mehr weggeht.
Ich verbringe den Nachmittag mit ihm. Beobachte jede noch so kleine Bewegung. Er wirkt nicht angespannt, es gab schon stürmischere Tage. Zuerst hat er ein bisschen Musik von seinem iPod gehört, dann ist er ums Haus geirrt und hat verschiedene Einzelheiten mit seinem geistigen Mikroskop untersucht. Ich suche zwischen meinen Sachen Andreas letzten Text heraus.
Bist du eher glücklich oder traurig?
glücklich
Bist du nicht traurig darüber, dass der Autismus dich an so vielem hindert?
parallele welt ist autismus, ich muss von erdenbewohnern lernen
Und du… bist du kein Erdenbewohner?
erdenbewohner lerne ich sein
Ich zerreiße den Zettel in winzige Fetzchen.
Wir lassen Andrea und Angelica auf einer Bank am Platz zurück. Ich schlendere mit Odisseu durch Arraial und komme mir vor wie damals in meinem Dorf, wo ich aufgewachsen bin, als wir noch den Provinzgrößen nacheiferten, die unsere Phantasie anregten und uns Lektionen fürs Leben erteilten. Gelegentlich waren die Vorbilder auch negativ, aber nützlich. Man lernte beim Zuhören und Hinschauen, denn an starken Persönlichkeiten fehlte es nicht.
Manchmal denke ich, dass wir immer schwächer werden.
Wir gehen Richtung Klippe. Odisseu hat eine Kühltasche mit Bier und einer Flasche Cachaça dabei, für alle Fälle. Ich sage, dass der Cachaça brennt, doch Odisseu überhört den Einwand. Wir suchen Zuflucht hinter einem Mäuerchen, stellen die Kühltasche ab und setzen uns, wirklich wie zwei Trottel. Ich werfe einen Blick auf das Haus fünfzig Meter weiter vorn. Ich betrachte Odisseus Sandalen und er meinen Gesichtsausdruck, ich fürchte, er sieht eine Mischung aus Besorgnis und Hoffnung. Die Prinzessin wird den Frosch küssen, und er wird sich verwandeln: Was für alberne Gedanken, und damit öffne ich die erste Bierdose.
Wir sehen sie kommen. Andrea vorneweg und sie leichtfüßig und ein wenig scheu hinterher. Auf einmal bleibt er stehen, dreht sich um, sucht sie mit dem Blick, weicht aus, sie streift seine Hand und geht dann voraus.
In Joanas Haus geht ein Licht an, und die Wände verbergen die beiden wie ein Vorhang.
Ich nippe an meinem Bier,
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