Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
allen Seiten überflutet. Andrea schlendert locker vor mir her, dreht sich oft um. Wir sehen uns an. Was er wohl wahrnimmt? Ich umarme ihn und erkläre ihm, was wir als Nächstes tun.
»Hör mal, wir holen jetzt das Motorrad und fahren sehr, sehr weit. Unser Gepäck müssen wir gut verstauen, damit wir nichts verlieren und alles dabeihaben, was wir brauchen.«
Der Angestellte des Motorradverleihs zeigt uns mehrere Maschinen, bemüht sich, Modelle zu finden, die ihm für unsere Bedürfnisse geeignet scheinen. Andrea fasst alles an, besonders die Rückspiegel. In einer Ecke steht eine rote Harley. Sieht aus wie ein Fuchs und blinzelt uns zu. Die da, sage ich. Der Angestellte verzieht keine Miene – der Kunde ist König.
Anlassen, Gas geben, kleinen Kreis fahren. Kaum sind wir draußen auf der Straße, hält uns ein Polizeiwagen auf. Ziemlich ungehalten schreit der Beamte: »Wrong way! Wrong way!« Eine Einbahnstraße? Andrea streckt ihm den Zauberstab entgegen, der Polizist sieht uns böse an. Gebt uns doch etwas Zeit zur Eingewöhnung! Aber vielleicht hatte der Polizist ja ganz recht: Wir bewegen uns schon immer ein bisschen gegen den Strom.
Ohne Eile brausen wir los. Kilometer um Kilometer schlucken wir den Raum, der Asphalt ist wie Schokolade, die Straßenschilder sind extra für uns geschrieben. Andrea klammert sich an mich, in Voraussicht der Orkane. Mit der Kraft eines Jugendlichen hält er sich fest, aufgeregt und cool zugleich.
Auf dem Motorrad stürmen wir Miami Beach.
»In Miami müsst ihr unbedingt ins Sugarcane gehen, das Sugarcane in Miami wird euch umhauen, da geben sich die VIP s die Klinke in die Hand.«
Sehr, sehr viele Freunde und Bekannte waren gekommen, um uns von ihren Reiseerlebnissen zu berichten und Tipps zu geben. Einige sind viel herumgekommen und glauben, sie kennten die Welt wie ihre Hosentasche. Die Großen Seen zum Beispiel: »Nein, wir fahren nicht zu den Großen Seen.« – »Warum nicht? Sie sind phantastisch.« – »Kann sein, aber wir werden nicht hinfahren.« – »Na gut, aber esst trotzdem keine Elchsteaks und auch kein Bisonfleisch, das Zeug ist absolut unverdaulich.«
Wir machen sowieso, was wir wollen, das weiß ich, die Straße wird uns leiten, und unser Instinkt des Augenblicks. Aber hier in Miami Beach möchte ich gerne Carlos Rat befolgen: Zu Hause denken sie an uns und sie denken, wir sind im Sugarcane. Das hat etwas Beruhigendes.
»Ein VIP ist einer, der seine Abende im Sugarcane verbringt und sich von uns gewöhnlichen Sterblichen bestaunen lässt«, erkläre ich.
Ich dachte, es sei eine Legende, aber die Stimmung ist wirklich aufgeheizt, und für die VIP s sind wir Luft. Andrea und ich können ganz entspannt sein. Er beobachtet auch die kleinsten Details. Der Tresen mit Bergen von Orangen und Limetten hypnotisiert ihn. Das Reisefieber legt sich allmählich, wir sind nun in den Fluss der Ereignisse eingetaucht.
Abends im Hotel ordne ich unsere Sachen. Wir dürfen nicht jetzt schon irgendwas in den Schubladen vergessen. Die Lederjacken hängen an den Stuhllehnen, sie werden eine Zeitlang unsere zweite Haut sein. Und ob wohl die Regenanzüge bei Gewitter wirklich wasserfest sind? Auf einem Motorrad ist alles gar nicht so einfach. Morgen starten wir.
Noch einmal gutgegangen
Dritter Tag in Amerika. Na siehst du, sage ich mir, es läuft doch prima, zum Teufel mit den ganzen Schwarzsehern, den Pessimisten mit ihrem Wehgeschrei, bloß nicht das Schicksal herausfordern, Vorsicht vor dem Jetlag, dem Mormonenjoghurt, dem Dallas-Syndrom. Jetzt sind wir schon drei Tage unterwegs, morgen sind es vier und übermorgen fünf. Ah, die Macht der Zahlen.
Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit? Wie standen meine Chancen?
Eins zu fünfhundert etwa, hatte der Facharzt gesagt.
Ich hatte auf seine Brille gestarrt. Auf die Fassung: quadratisch und dunkel, gewichtig. Der Doktor war irritiert, er fand wohl, ich sei unaufmerksam, aber nein, ich tat es aus einem viel einfacheren Grund: Auf diese Weise vermied ich, seinen weißen Kittel zu sehen, der ihn als Arzt auswies. So eine Brille hätte auch ein Steuerberater tragen können, ein Bankdirektor, ein Bonbongroßhändler, mein Nachbar, lauter Leute, die nicht die Autorität hatten zu sagen: Ihr Sohn ist autistisch, befolgen Sie meinen Rat.
Wir laden das Gepäck aufs Motorrad, ein eingespieltes Team. Das Hotelpersonal späht aus den Fenstern, wundert sich über Andreas Gebaren: Er umrundet die Harley, springt vor und klatscht in
Weitere Kostenlose Bücher