Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
diese Wunde bestimmt nähen. Ich fluche halblaut, und auf dem Weg zum Motorrad hinterlasse ich eine feine rote Spur. Ich drücke den Zeh so fest zusammen, bis er blass wird, dann schlüpfe ich in meine Schuhe. Ich habe Dringenderes zu erledigen: fahren, entscheiden, wo wir zu Abend essen, anschließend aufpassen, dass Andrea seine Zähne putzt, die Zahnseide nicht vergisst, sich auszieht, duscht, den Hintern ordentlich abwischt, und nachschauen, ob er sich nicht auch irgendwo verletzt hat. Das alles ist viel wichtiger, der Zeh heilt schon wieder.
Ich sehe, dass Andrea guter Dinge ist, aber es ist so schwierig herauszufinden, was er braucht. Ich versuche es mit Intuition, doch sicher irre ich mich oft. Bisher scheint alles glattzugehen, auch wenn er sehr in sich gekehrt ist und eigenen Gedanken nachhängt.
Im Motel studiere ich die Landkarten, überdenke unsere Route, surfe im Internet auf der Suche nach Informationen.
Andrea ist bei mir. Er scheint mit nichts beschäftigt zu sein, zwei bis drei Stunden können vergehen, und er sitzt einfach da. Wer weiß, ob er sich langweilt, ob Langeweile eine Kategorie ist, die man auf ihn anwenden kann. Und wenn er in Wirklichkeit auf fliegenden Teppichen durch die Lüfte sauste? Wenn er von Wolke zu Wolke spränge und von einem Hügel zum anderen rutschte wie auf einer riesigen Berg-und-Tal-Bahn? Wenn unsere Welt ihm im Augenblick wie ein langweiliger Ort aus geraden Linien vorkäme, mit grauen Gebäuden und Ampeln, die nur drei Farben haben?
Andre, Andre…
Wir setzen uns an den Computer, ich bemühe mich, ihn zum Schreiben zu bringen. Wir sind entspannt, es ist still. Aber Andrea rührt sich nicht. Ich sehe die Momente vor mir, in denen Andrea schrieb, während ich dabei war. Ich rekapituliere die Einzelheiten. Vielleicht bin ich ja fehl am Platz. Willst du mit Papa nicht schreiben?, frage ich.
Er sieht mich stumm an.
Sexy Italians
Heute Morgen trafen wir nach wenigen Kilometern auf einen Unfall. Am Straßenrand stand eine dichte Gruppe von Harleys schützend um den Körper eines jungen Mädchens, das am Boden lag. Wir haben einige Meter davor angehalten, uns aber dann doch genähert. Ja, es ist schwer, den Blick abzuwenden: Das Unglück der anderen zu begaffen ist ein mächtiger Exorzismus. Andrea hielt sich hinter mir. Die junge Frau war verletzt, aber bei Bewusstsein, und noch ehe wir etwas fragen konnten, kam schon die Ambulanz. Bevor sie sie auf die Tragbahre hoben, drängte Andrea sich vor und richtete seinen Zauberstab auf den daliegenden Körper.
Die Motorradfahrer standen noch eine Weile beieinander, dann setzten sie sich wieder auf ihre Maschinen und fuhren davon. Ich dagegen konnte eine ganze Stunde lang nicht auf meine Harley steigen. Was für ein Schreckgespenst. Und wenn ich unterwegs umkäme, was weiß ich, ein Infarkt, ein Unfall, das kommt doch vor, nicht wahr? Was würde dann aus Andrea? Die Vorhaltungen fielen mir wieder ein, die man mir vor der Abreise gemacht hatte: »Und wenn dir etwas zustößt?« Damit musste man rechnen. Ich wäre gern unverwundbar gewesen, oder auch verwundbar, aber zumindest noch in der Lage, Andrea in Sicherheit zu bringen, bevor ich zusammenbrach.
Ich umrundete das Motorrad, hüllte es in ein Netz von Beschwörungen: Geh ja nicht kaputt, lass mich nicht im Stich, pass auf, dass wir nicht irgendwo dagegenprallen.
Andrea sah, dass ich mir Sorgen machte, und wirbelte mit dem Zauberstab über meine Arme und Schultern. Wie ein großer Kobold. Ich musste lächeln, atmete tief ein und aus. Dann ging es mir etwas besser. Er wirkt einfach Wunder, dieser Zauberstab.
Unter einem angenehmen Nieselregen fahren wir wieder los. Wie brave Astronauten sind wir in die Regenanzüge geschlüpft. Als wir uns daran gewöhnt haben, gut eingepackt zu reisen, kommt die Sonne heraus. Bald wird uns heiß. Weg mit dem Regenzeug, damit wir nicht enden wie das Gemüse im Dampfkochtopf. Lieber riskieren wir einen Sonnenbrand.
Wir kommen nach Hudson, einem Fischerdorf an der Küste. Benommen und müde spazieren wir den kleinen Strand vor unserem Motel entlang. Da treten zwei offenbar leicht beschwipste Amerikanerinnen auf uns zu.
»Are you Italian?«
»Sì, Italian.«
Ich merke, dass ihnen Andrea gefällt: ein gutaussehender junger Mann mit kräftigen Muskeln und breiten Schultern. Voller Energie und Elan. Er treibt zwar keinen Sport, doch es wirkt, als täte er den lieben langen Tag nichts anderes, denn er geht ja immer auf Zehenspitzen: Der
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