Wenn ich sterbe, stirbst auch du Kommissar Morry
Kette unserer Beweisführung. Er war einer der wenigen Menschen, wohl der einzige überhaupt, der regelmäßig Zugang zu Mrs. Cumberlands Haus hatte. Ich hoffe Sie verstehen, was ich damit auszudrücken versuche?“
Patrick blickte den Kommissar an. „Mir fällt es wie Schuppen von den Augen!“ erwiderte er. „Warum habe ich nicht schon früher daran gedacht?“
„Das will ich Ihnen gern verraten. Der Gedanke an einen Bankangestellten verbindet sich im allgemeinen mit dem Bild des Korrekten und Zuverlässigen. Wer sich einen Bankbeamten vorstellt, verbindet das fast immer mit dem Prädikat der Ehrenhaftigkeit. Aber es gibt auch unter dieser Menschenklasse Schurken, und obwohl ich weit davon entfernt bin, unseren Mann als solchen einzustufen, haben wir doch alle Ursache, seinen Lebenswandel zu überprüfen..
„Natürlich!“ rief Patrick aus. „Es wäre schließlich nur menschlich, wenn er sich gesagt hätte, daß das Riesenvermögen von Mrs. Cumberland in den Händen von zwei alten Tanten eine höchst nutzlose, ja widersinnige Angelegenheit sei.“
„Überhaupt“, fuhr der Kommissar fort, „müssen wir der Bankseite des Falles mehr Aufmerksamkeit schenken. Sie wissen, daß Mrs. Cumberland ihr Vermögen bei einer Privatbank angelegt hat, und es ist bekannt, daß manche dieser Institute zuweilen in beträchtliche Schwierigkeiten geraten. Es gilt also zu prüfen, ob sich hier ein Ansatzpunkt des Geschehens findet.“
„Ich werde mich darum kümmern, Sir“, versprach Patrick.
„Wann beabsichtigen Sie nach Brighton zu fahren?“
„Morgen, Sir.“
„Sie halten mich auf dem laufenden —“
„Selbstverständlich, Sir.“
Morry gab ihm die Hand. „Gute Reise, mein Junge... und viel Erfolg!“ Der Kommissar lächelte Jamie in die Augen. „Ich hoffe, mein Mitarbeiter wird Sie nicht mit dummen Fachsimpeleien langweilen“, sagte er. „Für eine so junge, charmante Dame wäre das kaum das rechte Thema.“
Jamie erwiderte das Lächeln. „Vielen Dank“, sagte sie.
Als die beiden im Wagen saßen und in Richtung London fuhren, fragte Patrick: „Wäre es nicht besser, zunächst Ihre Frau Mutter zu verständigen?“
„Ich rufe in London an.“
„Darf man erfahren, wie alt Ihre Mutter ist?“
Jamie blickte ihn von der Seite an. „Das haben Sie schon einmal wissen wollen. Warum interessiert Sie das? Mama ist Fünfzig.“
„Wie alt war sie, als sie Marlowe heiratete?“
„Einundvierzig.“
„Er muß mindestens dreißig Jahre älter gewesen sein als sie.“
Jamie nahm den Kopf herum und blickte durch die Windschutzscheibe starr geradeaus. „Sie war zu lange allein gewesen. Papa hatte sie schon kurz nach meiner Geburt durch einen Autounfall verloren. Sie hat ihn bis heute nicht vergessen. Mama suchte keinen gleichaltrigen Mann, weil sie jeder Liebesbeziehung aus dem Weg gehen wollte. Da sie aber meinte, meine Versorgung und Ausbildung sichern zu müssen, gab sie schließlich dem Drängen von Oliver Marlowe nach und heiratete ihn. Sie war überzeugt, in ihm einen guten und zuverlässigen Menschen gefunden zu haben, aber schon bald entdeckte sie, daß Oliver Marlowe für die Ordnung des Ehelebens nicht taugte. Es kam zur Scheidung, übrigens im beiderseitigen Einverständnis.“
„In dem Brief, den Oliver Marlowe vor über vier Wochen an Sie richtete, spricht er von einer Bedrohung seines Lebens. Litt er schon während seiner Ehe mit Ihrer Mutter an Depressionen oder Angstvorstellungen?“
„Er war, wie die meisten Künstler, Stimmungen unterworfen, aber er pflegte immer zu sagen, er würde einmal hundert Jahre alt.“
„Ich fürchte, dieses Ziel hat er nicht erreicht“, seufzte Patrick und wies mit einer Kopfbewegung nach vom. „Gleich müssen wir halten. Da ist schon eine der Straßensperren.“
„Irgend etwas hält uns im Leben immer auf“, erwiderte Jamie nachdenklich. „Was aber war es, das das Leben meines Stiefvaters zu einem so plötzlichen Halt brachte?“
*
Patrick fuhr Jamie nach Hause. Sie wohnte unweit der Liverpool Station. Er hatte Mühe, das leichenblasse Mädchen zu trösten. Der Schock, den sie beim Anblick des toten Stiefvaters erhalten hatte, war tief und nachhaltig gewesen. Patrick mußte zugeben, daß auch sein Magen ein wenig revoltiert hatte. Immerhin war die Aktion erfolgreich verlaufen. Jamie hatte den Toten einwandfrei als Oliver Marlowe identifiziert.
Jetzt blieb nur noch zu klären, was aus Mrs. Cumberland, seiner Schwester, geworden war und
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