Wenn keiner dir glaubt: Thriller (German Edition)
Trost, ihn nur eine kurze Fahrtstrecke entfernt zu wissen. Martin hatte den Pflegeberuf aufgegeben und sah sich angeblich nach einer Halbtagsstelle um, während er das gemeinsame Kind aufzog. Zur Zeit der Trennung war er arbeitslos gewesen. Da Anya tagsüber lange arbeitete und nachts häufig Bereitschaftsdienst hatte, hätte Ben bei geteiltem Sorgerecht oft von einem Kindermädchen betreut werden müssen. Daher hatte das Gericht Martin das Sorgerecht zugesprochen. Anya hatte diese Entscheidung am Boden zerstört. Die Verpflichtung zur Unterhaltszahlung zwang Anya zu noch längeren Arbeitszeiten, und es war ihr unmöglich kürzerzutreten und einen neuen Sorgerechtsantrag zu stellen.
Anstatt traurig zu sein, als sie ihm die mehrwöchige Abwesenheit in Amerika ankündigte, bombardierte Ben sie mit begeisterten Fragen. Ob sie nach Disneyland führe? Ob er mitdürfe? Ob sie irgendwelche Stars treffen würde?
Martin hatte vor allem Bedenken wegen ihrer Sicherheit. Seit Anya zu Hause überfallen worden war, sorgte Martin sich stärker um sie, und sie kamen besser miteinander aus, was vor allem Ben sehr freute. Auch wenn Martin phasenweise immer noch unreif und egoistisch war, er war ein guter Vater, und wenn Anya die Sorgerechtsregelung auch nicht guthieß, lernte sie allmählich, damit zu leben.
Fast wäre sie in Tränen ausgebrochen, als sie Ben daheim absetzte. Es war nicht leicht zu akzeptieren, dass ihr Sohn sie weit weniger vermisste als sie ihn. Für ihn zählte im Grunde nur das Hier und Jetzt, während sie ihr Leben immer ganz auf das nächste Besuchswochenende ausrichtete. Dazwischen konzentrierte sie sich auf die Arbeit und darauf, ihren Ruf als rechtsmedizinische Gutachterin zu mehren.
Auf dem Flughafen flutschte es nur so. Sie war noch nie so rasch durch den Zoll gekommen und brauchte eine Schlange nicht einmal von Weitem zu sehen. Fast hatte sie ein schlechtes Gewissen. Fast. Sie flanierte an den zollfreien Auslagen vorbei zur Erste-Klasse-Lounge im Obergeschoss. Hinter der Milchglastür begrüßte sie ein strahlender Herr im Anzug und ließ sich die Bordkarte zeigen.
»Guten Morgen, Dr. Crichton. Wenn es etwas gibt, was ich für Sie tun kann, in New York einen Wagen bestellen oder einen Platz in einem Restaurant reservieren, lassen Sie es mich bitte wissen.«
Anya dankte dem Rezeptionisten und konnte sich, als sie das Handgepäck hereinrollte, ein breites Grinsen nicht verkneifen. Sie fühlte sich wie ein Kind, das zum ersten Mal in einem Süßigkeitenladen von der Leine gelassen wurde. Es blieb noch viel Zeit bis zum Abflug, und sie setzte sich an einen Tisch im Restaurant, wo sich augenblicklich ein Ober mit Speisekarte ihrer annahm. Selbst die Brötchen sahen lecker aus, sie waren noch warm, und Anya hatte keine Hemmungen, sie dick mit der Biobutter zu bestreichen, die auf dem Tisch bereitstand.
»Ich hätte ja eher getippt, dass Sie sich eine Wellnessbehandlung gönnen.«
Sie hatte gerade zum dritten Mal in das knusprige Brötchen gebissen, als Ethan Rye in offenem Hemdkragen, Sakko und Anzughose plötzlich vor ihr stand.
»Darf ich mich dazusetzen?«
»Bitte.« Sie fuhr sich mit der Serviette über den Mund und hoffte, dass keine Krümel an ihrer Lippe klebten. »Ich habe mich im Internet genau informiert. Der Wellnessbereich macht erst um neun auf.«
»Endlich treffe ich jemanden, der ebenfalls ein Auge fürs Detail hat«, meinte er schmunzelnd und setzte sich ihr gegenüber. »Ich dachte, je früher Sie das haben, desto besser. Das sind Dossiers zu sämtlichen Spielern, die dazu verdonnert wurden, an dem Seminar teilzunehmen. Damit Sie sich schon einmal darauf einstellen können, womit Sie es zu tun haben.
Es ist eine ziemliche Menge Material. An den Workshops, Pressekonferenzen und Meetings werden über dreihundert Spieler teilnehmen. Jetzt im August hat die Saison zwar noch nicht begonnen, aber es gibt ein Promi-Match gegen den Vorjahresmeister, die New Jersey Bombers. Sie werden die Gelegenheit haben, es zu sehen.«
Anya blieb stumm. Sie wäre lieber ins Museum gegangen als zu einem Footballspiel.
Ethan schien sich ein Grinsen zu verkneifen. »Es ist ein Vorbereitungslager für die Spieler. Die Jungs essen, schlafen, atmen und trainieren mit ihren Mannschaftskollegen. Ehefrauen, Kinder und Freundinnen sind nicht zugelassen. Selbst wer eine Wohnung in New York City hat, muss im Hotel wohnen. Ligavorschrift.«
Anya konnte sich kaum etwas Klaustrophobischeres vorstellen. Sie genoss
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