Wenn Licht die Nacht durchdringt: (Teil 2) (German Edition)
Toskanastil. Orangefarbene Wände, Fensterläden, quadratischer Grundriss. Nach einem Abstand von ein paar Metern säumten hohe dunkelgrüne Zypressen in säulenförmigem Wuchs das Gebäude ein. Ein Feldweg führte durch den Wald Richtung Hauptstraße.
Die Umgebung nun in hellem Tageslicht zu sehen, entzog ihr den unheimlichen Schauder von gestern bei ihrer Ankunft. Nachts war einfach alles dunkel, düster und wirkte oftmals geheimnisvoll und schaurig. Vor allem dann, wenn man einen Ort noch nicht kannte, ohne Licht durch ihn hindurchstolpern musste und obendrein auf der Flucht vor einer Bedrohung war. Die Frage, die ihr – unter anderen – immer wieder durch den Kopf ging, war die, wer oder was genau die Bedrohung war, vor der es zu fliehen galt.
Nikolaj? Merkas? Luzifer? Alle zusammen?
Sie ging einige Schritte, bog an der Hausecke ab und lief weiter Richtung Rückseite des Hauses, wo sie einen Garten mit einigen unbepflanzten und vertrockneten Beeten fand. Scheinbar hatte sich Simon für Gartenarbeit und Pflanzen interessiert. Möglicherweise hatte es auch eine Frau gegeben, die darauf bestanden hatte, ein paar Gemüse- und Kräuterbeete anzulegen und Blumen zu setzen. An der Längsseite der Hauswand stand eine Holzbank, auf die sie zusteuerte, um sich darauf niederzulassen. Irgendwie fühlte sich nicht nur ihr Kopf schwummrig und seltsam an, sondern ihr ganzer Körper. Es war eine Mischung aus Gänsehaut und Prickeln, die ihr auf der einen Seite gänzlich fremd, auf der anderen Seite vertraut vorkam.
Die Beine angezogen, schlang sie ihre Arme um die Knie und beugte ihren Kopf in die Mulde. Ob je alles wieder normal werden würde? Normal im Sinne von: unbedrohlich, vertraut, geordnet und sicher? Ein Teil von ihr vermochte es nicht zu glauben, der andere Teil vermochte nicht aufzuhören, es zu hoffen.
Wenn sie sich nur nicht so allein fühlen würde. Natürlich: Marah und Jonathan waren bei ihr. Sie hatten sie hierher, in Sicherheit gebracht, um ihr beizustehen und ihr zu helfen. Sie war dankbar dafür und froh deswegen – aber sie kannte keinen von beiden. All die Menschen, die zu ihrem Leben gehörten, waren nicht hier. All die Menschen, die ihr etwas bedeuteten, waren entweder tot, fortgegangen, in Gefahr, wenn sie bei ihr waren, oder sie waren selbst zu einem Teil der Bedrohung geworden. Sie hätte Nikolaj die Schuld an allem geben können, hätte Hekate nicht gesagt, dass sie eine Aufgabe zu bewältigen hätte, die die Sensaten betraf. Damit wäre sie wohl früher oder später mit ihnen in Berührung gekommen – mit oder ohne Nikolaj.
Und nach allem, was sie nun wusste, was
sie
getan hatte: Konnte sie ihm die Schuld – die alleinige Schuld – an dem geben, was er getan hatte?
Ihr
angetan hatte? Hatte Jonathan recht und es spielte keine Rolle, dass sie ihn verletzt und er daraufhin getan hatte, was er getan hatte? Vielleicht hatte er tatsächlich recht. Vielleicht war Nikolaj so. Vielleicht war er schon immer so gewesen und hatte sich lediglich verstellt, ihr etwas vorgemacht? War es so?
Sie spürte ein Beben in ihrer Brust, das sie erzittern ließ. Das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, überwältigte sie so heftig, dass sie Panik bekam und in abgehacktes Lufteinsaugen verfiel. Ihr Keuchen wurde um einen Tränenschleier ergänzt, der alles um sie herum in neblige und wabernde Formen verlaufen ließ.
„Bist du OK?“ Jemand ging vor ihr in die Hocke. Es war Jonathan.
„Ich krieg keine … keine … Luft mehr …“, ächzte sie die Worte mit Mühe heraus, während sie sich vor und zurück wiegte. „Ich … ich …“ Salzige Tränen liefen ihr in den Mund, das Beben im Inneren ließ sie nicht los.
„Es ist alles in Ordnung.“ Er setzte sich neben sie, zögerte kurz, dann legte er die Arme um ihre Taille und zog sie an seine Seite. „Du bist hier in Sicherheit. Marah ist ein Ass in Sachen Schutzzauber – und ich bin auch noch da. Wir sind bei dir.“
„Ich will, dass … ich will keine Angst haben müssen … Ich will … ich will doch nur …“ Sie brach schluchzend und atemlos ab.
„Ganz ruhig.“ Er strich ihr leicht übers Haar. „Das kriegen wir schon alles wieder hin. Es kommt alles wieder in Ordnung, du wirst schon sehen. Ich gebe dir mein Versprechen, dass alles wieder in Ordnung kommt …“
Sie versuchte ihren Atem zu beruhigen, hob den Kopf und sah Jonathan ins Gesicht. Keine Spur von Wut, Ärger oder einer Lüge. Sie wollte nur zu gern glauben, dass er ihr dieses Versprechen geben
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