Wenn Licht die Nacht durchdringt: (Teil 2) (German Edition)
anklagend klingen zu lassen. Sie hatte Respekt Hekate gegenüber. Sie verspürte ihr gegenüber keinen Groll. Sie vertraute ihr. Auch wenn sie ihre Beweggründe, ihre Worte, nicht in Gänze nachvollziehen konnte. „Du willst, dass ich dir helfe und doch habe ich das Gefühl, dass du mir deine Hilfe verweigerst. Ich soll etwas tun – aber du sagst mir nicht alles, was du weißt, nicht alles, was ich wissen muss, um zu tun, worum du mich gebeten hast.“
„Ich weiß, dass es für dich so aussieht – wie die Wahrheit. Doch das gilt auch für mich. Ich helfe dir so gut ich kann. Ich helfe dir so weit ich kann. Manche Dinge folgen keinen bekannten Mustern, Regeln und Gesetzen. Manches funktioniert nur Strom aufwärts. Manche Wege haben eine Landkarte mit unverständlichen und undeutbaren Hinweisschildern, die einen scheinbar im Kreis führen. Tatsächlich jedoch sagen sie die Wahrheit. Man vermag sie nur nicht immer zu lesen oder zu verstehen und fühlt sich deswegen in die Irre geführt.“ Hekates Worte waren kryptisch, wie die eines Orakels.
Sie schloss die Augen. Wieso konnte es nicht einfach eine klare Antwort geben? Eine klare Anweisung, was sie tun sollte? Was sie tun musste? Hekate kannte die Antwort – dessen war sie sich sicher. Warum gab sie sie ihr nicht einfach?
Sie horchte in sich hinein.
Würde ich mich wirklich besser fühlen, wenn ich wüsste, was ich tun soll? Würde es sich richtig für mich anfühlen, wenn ich klar und deutlich gesagt bekommen würde, was ich zu tun habe? Würde es sich richtiger anfühlen, als jetzt?
Wüsste sie, was sie für ein Opfer bringen sollte, würde nicht sie über die Opfergabe entscheiden, sondern jemand anderes. Aber wenn es um ein Opfer von
ihr
ging – musste dann nicht auch sie diejenige sein, die über das Opfer bestimmte? Oder hatte das eine mit dem anderen nichts zu tun? Galt es, lediglich einen „Preis“ zu zahlen – gemessen an der Größe der beabsichtigten Wirkung auf Liliths Zauber?
Ja und Nein.
Sie fühlte die Wahrheit der Erkenntnis in ihrem Herzen. Keine zufriedenstellende, beruhigende Erkenntnis – aber die richtige und wahrhaftige. Was Frieden in das Chaos brachte. Es ging um eine Opfergabe von ihr – also musste auch sie diejenige sein, die ihren Wert festlegte. Und zeitgleich galt es einen angemessenen Preis anzusetzen, der die Macht innehatte, zu tun, was zu tun war.
Obwohl immer noch Furcht an ihr nagte, fühlte sie, wie sie an Stärke zunahm. In ihrem Inneren – ihrem Herzen.
Sie öffnete die Augen, sprach die Worte deutlich, klar und bedacht. „Ich muss also in die Sensatenwelt. Zusammen mit Nikolaj.“
„So ist es.“
„Kennt er den Ort? Den magischen Abdruck?“
„Ja. Er weiß, wohin ihr müsst.“
Sie nickte. „Was ist mit Marah? Und Jonathan?“ Sie dachte an die Szene in der Küche. An Nikolajs und Jonathans Gezanke. Ihren Ausbruch. An das, was Marah zu Jonathan gesagt hatte. An dessen Reaktion. An die Stimmung, die zurückgeblieben war.
„Es ist ihre Entscheidung. Jeder von euch hat seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Manchmal sagt oder tut ihr Dinge, doch sind sie nicht gänzlich das, was
ihr
wirklich wollt.“
Sie sahen sich in die Augen.
„Wir prallen aufeinander“, flüsterte sie. Gleichsam zu sich selbst und an Hekate gewandt.
„Und wer hat etwas davon? Wer zieht Nutzen daraus, wenn ihr euch voneinander entfernt? Nicht mehr zusammenhaltet? Unvorsichtig werdet?“
Gwen verstand. Ein eisiges Prickeln jagte ihre Wirbelsäule hinab.
„Lasst ihn nicht in eure Gedanken, in euer Herz. Versucht bei euch zu bleiben. Gebt euren Gefühlen nur dann nach, wenn ihr euch wirklich sicher seid, dass es eure sind. Dass ihr sie in diesem Moment nach außen dringen lassen wollt.“ Hekate machte eine kurze Pause. „Noch etwas, das von Bedeutung sein könnte: Nikolaj und Jonathan haben kein direktes Problem miteinander – aber was geschehen ist, die Situation, in der sie aufeinandergetroffen sind, hat einen zur perfekten Zielscheibe des anderen gemacht. Weil sie in gewisser Hinsicht Spiegelbilder voneinander sind. Das kann sich sowohl positiv als auch negativ auswirken. Alles enthält immer das Potenzial zum Besten und Schlechtesten, zum Größten und Kleinsten, zum Hellsten und Dunkelsten …“
Gwen fühlte einen leichten Taumel und hielt sich den Kopf. Unruhige Panik schwappte über sie hinweg. „Nein, ich kann noch nicht gehen. Ich bin noch nicht so weit. Ich muss …“
„Du bist bereit. Es ist Zeit, dass du zurückkehrst.“
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