Wenn Liebe die Antwort ist, wie lautet die Frage? - Lilias Tagebuch
Reiten, Fechten, Theater und Musik. Vermutlich hatten ihre Eltern ein Pferd und einen Wagen. Und sie tanzte gern die »Farandole«, einen provenzalischen Volkstanz zu Flötenmusik und Tamburin.
Cola gab es übrigens wirklich damals schon, es enthielt sogar Kokain. Und sehr reiche Leute hatten in Frankreich auch schon ein Klo mit Wasserspülung, aber so wohlhabend waren Jeannes Eltern vermutlich nicht. Wahrscheinlich benutzten sie Nachttöpfe und hatten ein Plumpsklo außerhalb des Hauses. Manchmal hatten Familien sogar Gemeinschaftsklos mit mehreren Sitzen. (Bäh! Früher war gar nicht alles besser als heute! Allein die Vorstellung! Familienkonferenz auf dem Klo?)
Ach ja, dann waren da noch die Ohren von Vincent van Gogh: Der Maler hat 1890 irgendwie sein linkes Ohr verloren und später behauptet, er hätte es sich selbst in einem Anfall von Wahn abgeschnitten. Vielleicht war das aber auch sein Kumpel, der Maler Paul Gauguin, und van Gogh hat ihn nur gedeckt. Fest steht: Das war ein Jahr, nachdem Jeanne ihn getroffen hatte. Sie kannte ihn also noch als Zweiohrmaler.
»Was mir an euren Fragen auffällt«, sagte Herr Welter, »ist Folgendes: Alles, was ihr wissen wollt, unterscheidet sich deutlich von dem, was normalerweise in Geschichtsbüchern steht.«
»Klar. Weil wir das aus den Geschichtsbüchern natürlich alles schon wissen«, meinte Benny und faltete brav seine Hände.
»Genau«, gab Herr Welter ihm recht. »Ihr seid in den letzten Jahren im Unterricht einmal durch die gesamte Geschichte durchgewandert. Und jetzt kommt etwas Neues. Ein neuerBlickwinkel. Jetzt sollt ihr euch Geschichte nicht mehr einfach so reinziehen, jetzt möchte ich in euch echtes Geschichtsbewusstsein wecken. Ihr sollt verstehen, dass unsere Zeit die Vergangenheit von morgen ist. Und ihr sollt kapieren, dass ihr Zeitzeugen seid, also wirklich Zeugen eurer Zeit.« Herr Welter sah uns auffordernd an, als sollten wir jetzt etwas sagen oder in Jubel oder gar Tränen der Rührung ausbrechen. Aber wir starrten ihn nur an. Wir hatten nämlich den begründeten Verdacht, dass jeder, der jetzt einen Mucks von sich gab, drankommen würde, um irgendetwas sehr Unangenehmes, Peinliches tun zu müssen. Herr Welter hatte so etwas Feierliches in der Stimme, dass uns sicher nicht ohne Grund misstrauisch machte.
»Zeitzeugen!«, schmetterte er noch einmal. »Zeugen eurer Zeit.« Wir sagten immer noch nichts. Das brachte ihn auf den harten Boden der Realität zurück. »Okay. In den kommenden zwei Wochen habt ihr einen Arbeitsauftrag. Und der lautet: Augen auf. Ohren gespitzt. Alle Sinne auf Empfang. Und dann schreibt ihr auf, was euch auffällt. Das ist nämlich ein Schreibprojekt. Im Vordergrund steht dabei die Frage: Was sollten Menschen in hundert Jahren über uns heute wissen. Was wird in Vergessenheit geraten, wenn wir nicht daran erinnern? Was steht garantiert nie in Zeitungen oder Geschichtsbüchern und bestimmt doch unseren Alltag und unser Leben mehr als die Frage, wer gerade Bundeskanzler ist und welche Gesetze heute gelten.« Genau in diesem Moment begann Ninas Handy vorne auf dem Pult zu knattern wie ein Maschinengewehr. »Ja!«, jubilierte Herr Welter. »Auch so etwas gehört dazu. Mein Handyklingelton: Wie oft wechsele ich ihn, worauf achte ich dabei,was soll er über mich aussagen? Auch das könnte so ein Text werden. Schreibt es auf. Schreibt alles auf!«
»Und wer liest das dann?«, fragte Benny gelangweilt. »Also, wenn Nina über ihr Handy schreibt, les ich das nicht.«
»Guuute Frage!« Herr Welter sah Benny an, als hätte er eben die Weltformel errechnet. »Jeder von euch schreibt drei Texte über Dinge, Orte, Ereignisse oder Menschen, die für ihn wichtig sind. Ja, auch Orte sind möglich. Beschreibt ruhig auch mal ein Haus, einen Platz, ein Zimmer, eine Landschaft, das sieht ja alles in 100 Jahren anders aus als jetzt. Verknüpft alles mit persönlichen Eindrücken und Erlebnissen. Niemand wird diese Texte lesen. Ich kontrolliere nur, ob ihr sie geschrieben habt, aber nicht, was darin steht. Ihr bekommt sie aber nicht zurück. Denn jetzt kommt’s!« Er strahlte uns an. »Das ist nämlich nicht nur ein Schreibprojekt, sondern natürlich auch ein Geschichtsprojekt. Lebendige Geschichte!« Seine Stimme kiekste an dieser Stelle vor Lehrerglück. »Alle Aufsätze kommen in eine Mappe und die übergebe ich dem Stadtarchiv. Dort wird sie dreißig Jahre lang verschlossen aufbewahrt. Nach dieser Zeit kann jeder von euch seine Texte
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