Wenn Liebe die Antwort ist, wie lautet die Frage? - Lilias Tagebuch
Hochsommer, wenn es so richtig heiß ist.
Der Unterricht fällt an diesem Tag aus. Alle Schüler unserer Schule müssen stattdessen auf dem Sportplatz Runden drehen, bis sie umfallen. Das ist der Teil der Veranstaltung, der Marathon heißt. Vorher müssen wir noch Freunde, Verwandte und Bekannte mit einem Spendenformular heimsuchen und sie dazu bringen, uns für jede Runde, die wir rennen, einenEuro zu bezahlen. Das ist der Teil der Veranstaltung, der mit dem Wort »Spenden« gemeint ist. Mit dem Geld, das auf diese Weise reinkommt, sollen in diesem Jahr neue Tische für die Cafeteria finanziert werden.
Der Maki hielt uns eine kurze Rede über den pädagogischen Hintergrund des Marathons. Sport. Gesunde Bewegung. Fitness. Blablabla. Gemeinschaftsgefühl. Teamgeist. Zusammenhalt. Blabla. Allgemeinheit. Engagement. Wohltätiger Zweck. Blaaa. Und dann folgten die unvermeidlichen Paragraphen für den Spendenmarathon: Wer nicht mitlaufen kann, braucht ein Attest und muss trotzdem an der Veranstaltung teilnehmen und zuschauen. Wer unentschuldigt fehlt, dessen Eltern bekommen einen Brief vom Maki mit der Bitte um Klärung der Fehlzeiten. Und wer absichtlich langsam läuft, bekommt außerdem noch eine schlechte Sportnote. Ja, wir konnten alle unsere Freude über dieses Sportereignis nur schwer im Zaum halten, zumal der Wetterbericht eine Hitzeperiode angekündigt hatte.
Mal ehrlich: was für eine bescheuerte Idee.
Tja. Aber musste Tom das ausgerechnet in diesem Moment sagen, und dann auch noch laut?
»Wie bitte?« Der Maki drehte sich zu Tom um und seine Riesenaugen saugten sich förmlich an ihm fest.
Aber Tom wirkte nicht beeindruckt. »Herr Makel, ich möchte an dieser Veranstaltung nicht teilnehmen.«
»Wie bitte?«, fragte Herr Makel noch einmal und wir dachten das in diesem Moment alle.
Aber Tom saß ganz locker auf seinem Stuhl, er schien kein bisschen nervös. Neben ihm saßen links Benny und rechts Fabi. Und sie nickten zu Toms Worten.
Was für ein Kontrast: vorne der Maki mit seinen Glubschaugen und seiner blassgrauen Haut, schmal, verkrampft, verhuscht, verkniffen. Und hinten die drei Jungs, sonnengebräunt, entspannt, breitschultrig – irgendwie so lebendig im Vergleich zu unserem Schulleiter, der plötzlich so unecht aussah, als hätte ihn jemand aus vergilbtem Papier ausgeschnitten.
»Nö. Ich mach da nicht mit«, sagte Tom freundlich, als hätte er das Recht, selbst zu entscheiden, was er am Montag tun würde.
Und plötzlich fragte ich mich: Ja, hatte er das denn nicht? In was waren wir hier hineingeraten? Und was für seltsame Regeln galten hier? Wie konnte es sein, dass ein vergilbter Koboldmaki bestimmen konnte, dass 1200 Schülerinnen und Schüler am Montag wie gestört durch die Sommerhitze rennen und davor auch noch ihre Verwandtschaft um Geld anbetteln müssen? Warum ließen wir das zu?
»Wie lautet dein Name?«, fragte der Maki leise und drohend.
»Ich bin Tom Barker.« Tom blieb cool. Er lächelte nicht, aber er wirkte auch nicht feindselig, sondern nur selbstbewusst und sicher. Und ich fühlte mit jeder Faser meines Gehirns und meines Herzens: Tom hatte recht.
»Ich sehe das auch so«, sagte ich deswegen und fügte noch hinzu: »Und meine Name ist Lilia Kirsch.« Wenn schon, denn schon. Seltsamerweise blieb ich genauso ruhig wie Tom. Und dann hörte ich links und rechts neben mir vertraute Stimmen.
»Dana Winter.«
»Maiken Willund.«
»Benjamin Merk.«
»Fabian Meyer.«
»Was soll das heißen?«, fragte der Maki. Seine Augen wurdenstechend und das war sehr unheimlich, denn falls so eine Brille wie ein Brennglas wirken konnte, dann würden die Jungs gleich Brandblasen im Gesicht haben.
»Wir sehen das wie Tom«, erklärte Fabi ihm freundlich.
Tom stützte die Ellenbogen auf den Tisch, legte die Finger aneinander und dachte nach. »Herr Makel, ich glaube, diese Veranstaltung sollte freiwillig sein. Das ist schließlich doch ein sehr großer Eingriff in unsere Persönlichkeitsrechte. Dazu kann man keinen zwingen.«
» Ein Eingriff in eure Persönlichkeitsrechte? «, zischte der Maki. »Erklär mir das, Tom Barker. Erklär mir, warum es mit deinen Persönlichkeitsrechten nicht vereinbar ist, wenn du dich in einem Team für die Allgemeinheit engagieren sollst.«
»Oh, so weit ist das schon okay«, antwortete Tom und runzelte die Stirn, als würde er ernsthaft nachdenken. »Aber Verwandte um Geld anzubetteln ist jetzt nicht gerade das, was ich persönlich unter Engagement
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