»Okay. Bringen wir’s hinter uns!«
Jetzt sitzt er da drüben und hat sichtlich das Gefühl, von allen angestarrt zu werden. Ich wette, er versucht gerade, so auszusehen, als wäre er nur mein Bruder, was ihm natürlich nicht gelingt, denn wir ähneln uns überhaupt nicht. Der knarzende Korbstuhl, auf dem er sitzt, ist viel zu klein für ihn. Bei jedem Versuch, es sich bequem zu machen, verursacht er einen Höllenlärm. So fällt er in diesem Wartezimmer voller Frauen und Mädchen noch mehr auf. Man sieht deutlich, dass er gerade eine harte Zeit durchlebt. Aber ich habe kein Mitleid, es ist nur zu seinem Besten. Ich sitze ja schließlich auch nicht zum Spaß hier und mich bemitleidet keiner.
Pfihihi, immer wenn jemand reinkommt, hält er sich eine Zeitschrift vors Gesicht, damit ihn keiner erkennt. Er merkt gar nicht, was für eine Zeitschrift er da in der Hand hält. Sie heißt »Mein Baby«. Das könnte ein Grund dafür sein, dass die Leute ihn hier so interessiert beäugen.
19.00 Uhr Geschafft! War ganz harmlos. Nach einem lockeren Gespräch hat die Ärztin mir eine Probepackung mit einer Pille gegeben. Falls das je ein Thema für mich sein sollte, bin ich jetzt also gewappnet.
Flocke hat mir keine Fragen gestellt, genau wie er es versprochen hatte. Aber kaum waren wir aus der Praxis raus, ist er zu Dana abgeschwirrt. Ich schätze mal, jetzt werden sie reden.
20.00 Uhr Ha! Auf Facebook ist die Hölle los! Unser Boykott war ein Riesenerfolg. Wenn man das Geld zusammenrechnet, das wir erarbeitet haben, dann sind wir schon jetzt bei mehr als dreitausend Euro. Der Spendenmarathon hingegen war wohl dieses Jahr eher eine schlappe Veranstaltung. Wegen der großen Hitze konnten die Läufer nur wenige Runden drehen, also kam nicht viel Geld zusammen. Und die Stimmung war mies. Der Maki hat alle Klassenlehrer veranlasst, während des Marathons drei Mal die Anwesenheitslisten zu kontrollieren, um die Namen der Schulschwänzer lückenlos zu erfassen. Und er hat Strafen für alle angekündigt, die geschwänzt haben.
Da haben wir aber Angst!
20.30 Uhr Gääähn! Ich bin so was von müde. Ich glaube, ich gehe heute mal früh ins Bett. Ich erzähle Paps das mit dem Marathon morgen. Die ersten beiden Stunden fallen aus, da ist Zeit genug. Und er schläft dann auch besser.
Betreff: Schulverweigerung Ihrer Tochter Lilia Kirsch
Datum: 04.07., 18:15 Uhr
Von: Dr. Herbert Makel
An: Oliver Kirsch
Sehr geehrter Herr Professor Kirsch,
leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihre Tochter Lilia am heutigen Montag unentschuldigt der Schule ferngeblieben ist. Ich gehe nicht davon aus, dass sie krank war, denn sie hatte mir zuvor persönlich angekündigt, sie würde zusammen mit anderen Schülern die Teilnahme an unserem jährlichen Spendenmarathon gezielt boykottieren.
Diese sportliche Großveranstaltung ist ein Höhepunkt unseres Schuljahrs, die Schülerinnen und Schüler engagieren sich dabei gemeinsam für einen wohltätigen Zweck.
Ich halte es für unerlässlich, dass die Boykotteure, allen voran die Anstifter, zu denen Lilia gehört, bestraft werden.
Die sportlichen Leistungen der Fehlenden an diesem Tag werden daher mit der Note sechs bewertet. Darüber hinaus plane ich weitere Strafmaßnahmen, die ich gern mit den Eltern der Betroffenen abstimmen würde. Ich bitte Sie daher morgen um 17 Uhr zu einem Gespräch in mein Büro.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Herbert Makel
Schulleiter
Dienstag, 5. Juli
Die Rosine nervt! »Hau mich nicht, hau mich nicht, hau mich lieber nicht.« Von diesem Gesang wurde ich heute ganz früh wach. »Beiß mich nicht und kratz mich nicht, du mieser kleiner Wicht!«, schmetterte sie immer noch, als ich zum Frühstück wankte, das leider noch nicht auf dem Tisch stand. Und so ging es die ganze Zeit. »Hau mich nicht, hau mich nicht, hau mich lieber nicht. Beiß mich nicht und kratz mich nicht, du mieser kleiner Wicht!« Und noch mal. »Hau mich nicht, hau mich nicht, hau mich lieber …«
7.30 Uhr »Rosalie Viola Kirsch«, unterbrach ich sie. »Noch einmal dieses Lied und ich hau dich. Aber wie!!!«
»Hau mich nicht, hau mich nicht, hau mich …«, krähte sie noch lauter.
»Na warte!« Drohend lief ich auf sie zu und rechnete fest damit, dass sie fliehen würde. Aber sie blieb stehen, riss die rechte Hand hoch und streckte mir ihre Handfläche entgegen. » ICH WILL DAS NICHT !!!«, brüllte sie.
Ich stoppte mitten im Lauf. »Huch?