Wenn nicht jetzt, wann dann?
hatte. Plötzlich begann sie den Gedanken gemütlich zu finden, dass er bei ihr wohnen könnte. Dass sie zusammen auf dem Sofa lümmelten und Pizza aßen. Dass sie sich nachts zusammen unter die Decke kuschelten, dass er sie im Arm halten würde, wenn ihr Bein schmerzte. Dass er sie küsste, wenn er abends wiederkam, und sie fragte, wie ihr Tag gewesen war. Sie dachte an seine Hände, die wirklich schön und schlank waren, und daran, wie gut es sich anfühlte, wenn er ihre Hand in seiner hielt. Verdammt, das war wirklich nicht die Art von Gedanken, die sie denken wollte. Aber es waren schöne Gedanken. Und was war schon dabei, sie noch ein bisschen weiterzudenken? Es musste ja keiner davon wissen.
10
A nnemie ließ das Make-up, das Waltraud ihr leihweise mitgegeben hatte, unberührt stehen, auch die Wimpern wollte sie sich nicht tuschen, sie wäre sich entsetzlich aufgedonnert vorgekommen. Das Einzige, was sie benutzte, und selbst damit fühlte sie sich schon zu geschminkt, war ein rosafarbener Labello. Die Lippenstifte hatte sie alle abgelehnt. Sie hatte ihr ganzes Leben lang noch nie Lippenstift aufgelegt, hatte sie protestiert, und Waltraud hatte die Augen gen Himmel gerollt und gestöhnt, dass es dann ja mal langsam Zeit dafür würde. Auf Waltrauds dringendes Anraten hin hatte sie sich dann diesen Labellostift gekauft, der ihre Lippen in einem zarten Rosé schimmern ließ. Als Annemie sich im Spiegel betrachtete, gefiel sie sich ganz gut. Ihre Haare glänzten in einem etwas wärmeren Goldton als sonst und ihre Augen strahlten. Sie trug ihre neue weiße Bluse und die Perlenkette, die Rolf ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Sie hoffte, dass sie echt war, und sie hoffte ebenfalls, dass ein Fachmann wie Herr Winter es ihr nicht gleich ansehen würde, falls sie es doch nicht war. Ihr neuer Rock fühlte sich angenehm an. Und die neue Strumpfhose erst! Nicht nur saß sie perfekt, so dass man sie überhaupt nicht spürte, weil sie nirgends rutschte oder kniff, ihre Beine wirkten tatsächlich auf magische Weise viel schöner und selbst ihre alten Pumps sahen plötzlich richtig gut aus in dieser Kombination. Sie schlüpfte in ihren Mantel und schaute auf die Uhr. Es war kurz vor sechs. Ob sie schon einmal nach unten gehen sollte? Genau in diesem Moment klingelte es.
»Ich komme!«, rief sie Claus Winter durch die Gegensprechanlage zu, griff nach ihrer Handtasche und lief die Treppen hinunter.
Er wartete bereits an der Eingangstür auf sie und reichte ihr mit einer angedeuteten Verbeugung die Hand, als sie die Tür öffnete und heraustrat.
Sein Auto stand direkt vor dem Haus, und er hielt zuerst Annemie die Beifahrertür auf, bevor er selbst einstieg. Annemie blickte ein Stück die Straße hinunter und entdeckte Waltraud, die zusammen mit Frau Schneider neugierig vor dem Laden stand, um nach ihr, oder vielmehr Herrn Winter samt Limousine, Ausschau zu halten. Wenigstens winkten sie nicht.
Auf dem Weg zum Restaurant fühlte Annemie sich wie eine Prinzessin. Claus Winter fragte, ob die Temperatur im Wagen ihr angenehm war oder ob sie es lieber wärmer oder kühler hätte oder ob es irgendwo zog. Er machte sie auf eine üppig blühende Clematis aufmerksam, die einen Zaun förmlich mit Blüten übergoss, und er entschuldigte sich, weil er einmal etwas stärker bremsen musste. Annemie wurde ganz still und beschloss, jede Sekunde dieses Ausflugs zu genießen.
Als sie ankamen, stieg er wieder aus, um ihr die Tür zu öffnen, und reichte ihr die Hand zum Aussteigen, er hielt ihr die Restauranttür auf, er nahm ihr den Mantel ab und führte sie an einen netten Tisch am Fenster. Annemie registrierte nervös die vielen Sorten von Besteck und Tellern und Gläsern, die gestärkten Stoffservietten und die Speisekarte, die in einer Sprache verfasst war, die sie nicht kannte. So war sie in ihrem ganzen Leben noch nicht essen gegangen, geschweige denn an einem ganz normalen Donnerstag. Liz hatte ihr geraten, das Besteck einfach von außen nach innen zu benutzen und sich um die Gläser nicht zu scheren, denn die würden die Ober schon für sie zurechtstellen, je nach Weinwahl. Und den sollte sie am besten Herrn Winter wählen lassen. Claus Winter saß ihr ganz gelassen und unbeeindruckt gegenüber und studierte die Karte. Er schien nicht nur zu verstehen, was darauf geschrieben stand, es schien ihm auch noch zu gefallen.
»Frau Hummel, hätten Sie etwas dagegen, wenn ich etwas vorschlage? Es gibt hier eine wunderbare Zusammenstellung
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