Wenn nicht jetzt, wann dann?
dass wir reisen, wenn die Kinder aus dem Haus sind und der Betrieb gut läuft? Habe ich mich da getäuscht?«
Nina seufzte. Eigentlich waren sie sich da stets einig gewesen. Bis sie vor einigen Tagen plötzlich an das Schicksal ihrer Mutter denken musste, die so früh gestorben war. Vielleicht sollte man Träume nicht zu lange aufschieben, weil man nie sicher sein konnte, was mit ihnen passierte.
Gerade als sie anhob, Fabian von diesen Gedanken zu erzählen, kamen die Platten mit den kalten und warmen Vorspeisen, die sie erst einmal von dem schwierigen Thema ablenkten.
Annemie fasste sich ein Herz und stellte Claus Winter die Frage, die sie schon den ganzen Abend am meisten interessierte.
»Ihr Bruder und Sie. Sie sind so unterschiedlich. Man käme nie darauf, dass Sie Brüder sind, wenn man es nicht wüsste. War das schon immer so?«
»Wir waren schon immer sehr unterschiedlich, aber auf eine ganz andere Art und Weise als heute. Obwohl ich gar nicht weiß, wie er heute ist, da kennen Sie ihn inzwischen besser als ich.«
Er wartete eine Weile, doch da Annemie nichts sagte, sondern ihn erwartungsvoll ansah, sprach er weiter.
»Ich war immer der Brave. Derjenige, der ordentlich für die Schule lernte, der den Eltern gefallen wollte. Hannes war der Künstler. Der Rebell. Hannes lachte, wenn ich mir Sorgen machte, dass wir nicht pünktlich nach Hause kämen. Er schwänzte die Schule, und er kam damit durch. Er war der Augenstern unserer Mutter. Mein Vater blieb dagegen skeptisch, ob man mit Talent und Frohsinn allein durchs Leben kommen könnte. Dennoch war er stolz auf diesen begabten Sohn. Mit siebzehn hatte Hannes ein Collier entworfen, das nur aus Blüten bestand, auf so eine Idee war keiner von uns gekommen und auch keiner der Goldschmiede, die für uns arbeiteten. Hannes’ Entwürfe wurden unglaublich erfolgreich. Die High Society der damaligen Zeit kam nur seinetwegen zu uns. Filmstars, Sänger, Politiker. Mein Vater wollte ihn als Designer einstellen, bevor es das Wort überhaupt gab, aber Hannes ließ sich nicht einfangen. Er sagte, er habe keine Ideen, wenn er in einem Büro sitzen müsse.«
Annemie nickte. In einem Büro konnte sie sich Hannes beim besten Willen nicht vorstellen.
»Mein Vater war leider auch der Meinung, der Sohn des Chefs könne nicht kommen und gehen, wie er gerade Lust hatte. Das untergrabe seine Autorität und die Ordnung des Hauses. ›Dann lasse ich es eben!‹, hat Hannes ausgerufen, und damit war das Thema für ihn erledigt. Er ging, und ich blieb. Zu den Bedingungen meines Vaters, zu geregelten Bürozeiten – ich akzeptierte alles. Ich hatte nie ein Problem damit. Hannes hatte immer schon einen Blick für die Natur gehabt. Vielleicht ist er deshalb nun in seinem Garten da draußen glücklich? Meinen Sie, er ist glücklich?«
Claus sah Annemie besorgt an. Sie spürte, wie sehr er es hoffte, und war froh, ihm antworten zu können, dass er auf eine melancholische Art und Weise wahrscheinlich tatsächlich glücklich war.
»Er hat sich ein kleines Paradies geschaffen da draußen. Es ist seine Welt. Ganz und gar. Er hat wirklich eine Begabung, die Blumenbeete sehen aus wie Gemälde, und mit welcher Geduld er seine Hortensien düngt und färbt, das kann nur ein Künstler.«
»Geduld war eigentlich keine Tugend, die ihm je zu eigen war. Er war ein Draufgänger, wissen Sie. Er war ja der Ältere. Und immer wenn ich mal Ärger hatte, dann hat er mich rausgeboxt. Haben Sie Geschwister?«
»Nein«, antwortete Annemie bedauernd. »Mein Vater hat meine Mutter verlassen, bevor es dazu kommen konnte.«
»Und jetzt leben Sie alleine?«
»Mein Mann ist vor sieben Jahren gestorben. Aber ich bin es schon immer gewohnt, viel alleine zu sein. Als Kind. Als Ehefrau. Und jetzt eben auch. Es macht mir eigentlich nichts aus. Ich kenne es gar nicht anders.«
»Ich weiß gar nicht, was ich machen soll, wenn Nina und Fabian nicht mehr im Haus unserer Familie wohnen wollen, sondern sich etwas Eigenes suchen möchten. Ich könnte es ja verstehen, aber es wäre … ich wäre … also, ich möchte es mir eigentlich gar nicht vorstellen.«
Er schenkte Annemie Wein nach, und sie betrachtete ihn aufmerksam.
»Sie vermissen Ihre Frau noch immer«, stellte sie fest und dachte, wie herrlich das sein musste, von einem Mann so beständig geliebt zu werden. So war sie noch nicht einmal geliebt worden, als Rolf und sie geheiratet hatten.
»Jeden Tag«, antwortete er leise. »Ich vermisse sie jeden
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