Wenn nicht jetzt, wann dann?
Morgen in dieser Luft so betont fröhlich und praktisch und nützlich war.
Der Kaffee war lauwarm und dünn. Das Brötchen sah knusprig aus, aber die Beläge waren eher trist. Eine verpackte Ecke Schmelzkäse, wie Liz sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen hatte, eine in Plastikdöschen eingeschweißte Marmelade, auf deren Deckel eine Kirsche abgebildet war, die wahrscheinlich darauf hinweisen sollte, dass Kirschgeschmacksstoffe in der dunkelroten Glibbermasse waren, die sich darunter befand. Liz dachte an Annemies Marmeladen und seufzte. Auf ihren Teller hatte sich auch noch eine kleine Plastikleberwurst gesellt, die aussah, als käme sie aus einem Kinder-Kaufmannsladen. Das Einzige, was sie wirklich anlachte, war ein Stückchen Butter in Goldpapier. Unbeholfen schmierte sie die weiche Butter auf ihr Brötchen. Ihr Arm wollte einfach nicht so, wie sie wollte, was sie fast zur Verzweiflung brachte. Geduld war noch nie eine von Liz’ Stärken gewesen.
Die Tobsuchtsanfälle, die Liz schon als Kind immer dann bekam, wenn sie etwas nicht schnell genug alleine bewältigte, hatte ihre Mutter stets seufzend damit kommentiert, dass Liz sich wohl gerade in dem Augenblick versteckt haben musste, als im Himmel die Geduld ausgeteilt wurde. Ihre Mutter. Ob Liz sie anrufen sollte? Ihr Verhältnis war sicher nicht das einfachste. Aber sobald Liz krank war, stieg so etwas wie eine leise Kindersehnsucht nach Mama in ihr auf. Als ob die Abwehr, mit der Liz sie sonst eher von sich fernhielt, zusammen mit ihrer Gesundheit hinweggeschmolzen war und Mama allein nun alles richten könne. Zumindest könnte sie ihr jetzt dieses Brötchen schmieren. Das würde sie bestimmt machen. Und dann würde sie ihr das Brötchen in kleine Müffelchen schneiden, so hatten sie zu Hause stets die gebutterten Brotstreifen genannt, die man in den Kaffee tunken konnte, bis nach einer Weile lauter kleine Fettaugen von der Butter darin schwammen. Wann immer Liz oder ihre kleine Schwester Natalie krank gewesen waren, war Krankenpflege die Art von Mütterlichkeit, mit der sie rechnen konnten. Auch wenn sich diese stets schnell erschöpfte, weil ihre Mutter selbst so ein bedürftiges Wesen war. Marlene Baumgarten, die mit zwei Kindern sitzengelassen worden war, ließ ihren beiden Mädels gegenüber nie einen Zweifel daran, was sie von Männern im Allgemeinen und Peter Baumgarten im Besonderen hielt, wie übel ihr mitgespielt wurde, wie viel ihr eigentlich im Leben zugestanden hätte und wie froh sie war, wenigstens ihre beiden kleinen Schätze zu haben. Sie neigte dabei zu einer gewissen Theatralik, mit der über kurz oder lang eine Unmenge feuchter Küsse auf beide Mädchen niederging, so dass sowohl Liz als auch Natalie lieber schnell das Weite suchten, wenn sich einer dieser dramatischen Ergüsse ankündigte, der oft mit einem Gläschen Prosecco begann und nach einer Flasche noch lange nicht aufhörte. Marlene Baumgarten war stets sehr darauf bedacht gewesen, ihre Töchter vor der Männerwelt zu warnen und sich selbst als Paradebeispiel dafür darzustellen, was einer Frau passieren konnte, wenn sie einem Mann vertraute.
»Und wenn er auch noch schöne Augen hat, Kinder, glaubt mir: Das sind die schlimmsten! Wenn er schöne Augen hat, dann lauft um euer Leben!«
Liz und Natalie waren stets davon überzeugt gewesen, dass ihr Vater das Weite gesucht hatte, weil seine Frau ihm zu anstrengend geworden war. Auf jeden Fall hatten sie beide, ohne dies je miteinander besprochen zu haben, den Männern nie so grundsätzlich misstraut, wie ihre Mutter es gerne gesehen hätte. Vielmehr hatten sie oft grinsend den Kopf geschüttelt über die düsteren mütterlichen Prophezeiungen, dass sie schon noch sehen würden, wohin das führe, und dass sie ihren naiven, ahnungslosen Töchtern die Enttäuschungen gerne erspart hätte, die zweifellos auf sie warteten, wenn sie der Spezies Mann so sorglos vertrauten.
Doch dann wurde erst Natalie mit dem dritten Kind hochschwanger sitzengelassen, weil der werdende Vater sich »irgendwie doch noch nicht bereit fühlte für Familie und so«, dann war die Geschichte mit Claire und Jo passiert, und Liz und Natalie hatten sich stumm angeschaut und gedacht, dass vielleicht doch etwas dran war an den Warnungen ihrer Mutter.
Liz blickte deprimiert auf ihr Brötchen. Sie würde ihre Mutter erst einmal nicht anrufen. Wenn Marlene Baumgarten das Wort »Unfall« nur hörte, würde sie wahrscheinlich schon tränenüberströmt ins Krankenhaus
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