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Wenn nicht jetzt, wann dann?

Titel: Wenn nicht jetzt, wann dann? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Ruppert
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mich die Arbeit von allem abgelenkt. Aber sobald es dunkel war und Ruhe einkehrte, war das vorbei, da sind die dünnen Schutzwälle eingestürzt, und ich wusste nicht mehr weiter. Nächtelang habe ich an deinem Bett gesessen und dir beim Schlafen zugeschaut, beim Atmen, beim Träumen, damit ich keine Sekunde lang vergesse, warum ich weiterleben muss.«
    »Ich erinnere mich daran«, sagte Nina plötzlich. »Ich erinnere mich daran, dass du immer da warst, wenn ich wach wurde. Ich wusste immer, dass ich nie alleine bin.«
    »Ja. Jetzt weißt du warum. Du hast mich am Leben gehalten damals. Und eines Abends, als ich bei dir saß, hatte ich plötzlich den Gedanken, dass Hannes niemanden hatte, der ihn am Leben hielt. Und da bin ich ins Auto gesprungen und zu ihm rausgefahren in seine Gärtnerei.«
    »Aber er war doch auch vorher schon alleine gewesen, ohne sie«, warf Nina ein.
    »Ja, das stimmt, aber in diesem Moment habe ich schlagartig begriffen, dass er immer noch gehofft hatte, dass sie zu ihm zurückkommt. Und diese Hoffnung war mit ihr gestorben. Es war wie eine Eingebung. Erst wollte ich den Gedanken wegschieben, wer will schon in der Nacht noch mal raus, es war ja fast Winter, und ich wollte dich nicht alleine lassen. Aber der Gedanke ließ sich nicht wegschieben. Er brachte mein Herz zum Rasen. Wir waren eben doch Brüder. Trotz allem. Ich habe ihn dann gefunden. Draußen im Gras unter seinen Äpfelbäumen. Mit einer Flasche Whisky und mehreren leeren Schachteln Tabletten, es war schon ziemlich kalt. Es hätte ihn erwischt. Sein Plan wäre aufgegangen.«
    »Und dann war er dir böse?«
    »Ja, er wollte sich im Tod mit ihr vereinen, und ich hatte schon wieder dazwischengefunkt. So sah er es. So sieht er es wahrscheinlich immer noch.«
    Ninas Vater seufzte, lehnte sich zurück und sah sie an.
    »Ja, das ist eine alte, lange und bittere Geschichte.«
    »Und ich dachte, wenn ich dich nach deinem Bruder frage, lenkt dich das ein wenig ab von den Gedanken an Mama. Ich merke ja, dass du oft traurig bist, seit wir unsere Hochzeit vorbereiten.« Nina lächelte schief. »Dieser Plan ist nicht so ganz aufgegangen.«
    »Nicht so ganz, nein. Aber es hat auch gutgetan, dir das alles zu erzählen. Ich wollte dich nie damit belasten. Ich wollte nie, dass du denkst, dein gemeiner Vater sei schuld am traurigen Schicksal seines Bruders.«
    »Das denke ich nicht, Papa, aber ich muss das alles erst mal verdauen. So eine dramatische Geschichte, so viel Gefühl!«
    »Sehr viel Gefühl. Komm, wir trinken noch aus, und dann gehen wir schlafen, hm?«
    Nina leerte nachdenklich ihr Glas und blieb noch einen Moment sitzen, als ihr Vater sich schon mit einem Kuss auf ihr Haar und einem liebevollen »Gute Nacht« verabschiedet hatte.
    Plötzlich sah Nina ihn mit ganz anderen Augen, nicht nur als ihren Vater, sondern als einen Mann, der ganz unabhängig von ihr ein eigenes Leben geführt hatte, schon bevor sie auf die Welt gekommen war, und dazu einen Mann, den das Schicksal nicht eben sanft behandelt hat. Es war seltsam, dachte sie, wie man als Kind seine Eltern nur durch die Brille der eigenen Existenz wahrnahm und ihnen gar kein Eigenleben zubilligte. Dass er ihr Vater war, war nur ein Teil seines Seins. Er war ein Mann, der sehr geliebt hatte, tragisch geliebt hatte. Der seine Frau und seinen Bruder verloren hatte und damals eigentlich nicht mehr weiterleben wollte.
    Er hatte so sehr geliebt. Und auch sein Bruder Hannes hatte so sehr geliebt. Was hatte er noch mal gesagt? »Jetzt weiß ich, was ich will im Leben. Bei ihr sein oder mich in Luft auflösen und aufhören zu existieren.«
    Sie überlegte, was sie eigentlich im Leben wollte. Sie verfolgte zielstrebig ihren Plan, den sie schon seit einiger Zeit für sich entworfen hatte. Sie würde das Juweliergeschäft mit Fabian übernehmen, sie würden bald Kinder bekommen, damit sie noch auf ihren Vater zählen konnten, bevor er sich aus dem Geschäft zurückzog, sie würden wahrscheinlich hier wohnen und wären eine wunderbare Familie. Wenn sie dreißig wäre, hätte sie sich schon so viele Träume erfüllt, wie sie sich andere in diesem Alter noch ausdenken. Und wenn die Kinder groß waren, könnte sie immer noch reisen und die Welt sehen. Das wollte sie doch, das hatte sie doch schon immer gewollt.
    Dazwischen drängte sich der Gedanke an Fabian. Würde dieser Satz auch auf ihn zutreffen? Würde er bei ihr sein wollen, egal was auch geschah? War es das, was er wollte im Leben? Bei ihr

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