Wenn nicht jetzt, wann dann?
ausgerechnet ich habe ihn gerettet. Das hat er mir bis heute nicht verziehen. Seitdem haben wir nie wieder miteinander geredet.«
Nina konnte eine Weile gar nicht sprechen, hinter ihren Augen brannten Tränen, die sie nicht weinen wollte. Sie sah ihren Vater an, in dessen Augenwinkeln es ebenfalls verdächtig glänzte. Was er alles erlebt hatte, bevor sie überhaupt auf die Welt gekommen war! Er musste sie so sehr geliebt haben. Bestimmt hätte er sich ihr sonst niemals zugewendet, wenn er doch wusste, wie wichtig und groß diese Liebe seinem Bruder gewesen war.
»Wie war das, als ihr euch verliebt habt? War es nicht schwierig, sich das überhaupt einzugestehen? Ich meine, er war dein Bruder? Sie war die Freundin deines Bruders?!«
Claus Winter sah Nina an und nickte.
»Es war ganz einfach, und gleichzeitig schien es völlig unmöglich. Hannes hatte mir bereits von ihr erzählt, aber ich kannte sie noch nicht. Er war schon eine ganze Weile mit ihr zusammen, als er sie eines Sonntags zum Kaffeetrinken mit nach Hause brachte, um sie uns offiziell vorzustellen. Ich hatte mich ein wenig verspätet, nicht viel, aber dadurch hatte ich die allgemeine Begrüßung verpasst. Als ich das Haus betrat, hörte ich hier im Salon Stimmen, natürlich unterhielten sie sich bereits. Und dann öffnete ich die Tür. Und da sah ich sie.«
Er verstummte wieder, und Nina dachte, dass er sie nun gerade vor sich sah. Wie damals sah er sie, und sein Gesicht wirkte plötzlich jünger.
»Sie wandte sich zur Tür, als sie hörte, dass jemand kam, und unsere Blicke trafen sich. Von diesem Moment an wusste ich, dass wir zusammengehören. Ich wusste sofort, dass sie zu mir gehörte und nicht zu ihm, und ich konnte in ihrem Gesicht lesen, dass sie das Gleiche empfand. Später hat sie mir erzählt, dass sie in diesem Augenblick dachte, sie habe den falschen Bruder erwischt. Und warum sie nicht mir zuerst begegnet sei, vor ihm. Wir haben versucht, unsere Gefühle zu ignorieren. Wir sind uns aus dem Weg gegangen, wir sind nie alleine in einem Raum geblieben, es gab schon den Verdacht, dass wir uns nicht ausstehen konnten, weil wir einander mieden. Die Blicke, die wir uns manchmal zuwarfen, wenn keiner hinsah, hätten uns verraten. Doch die sah niemand. Es ging nicht lange gut. Wir hielten es nicht aus. Irgendwann standen wir voreinander, waren alleine, kein Mensch war weit und breit, der uns hätte sehen können, da sind wir uns in die Arme gefallen, wie Ertrinkende, haben uns nur gehalten. Wir haben kaum geredet, und trotzdem wussten wir, wie es nun weitergehen musste. Sie würde Hannes verlassen, ich würde ihm beichten, dass ich sie ebenfalls liebte, wenn nicht noch mehr, dass wir zusammengehörten, und auch meinen Eltern musste ich dies beichten. Es war schrecklich. Niemand von uns konnte ahnen, dass es Hannes so schwer trifft. Wir haben alle gedacht, dass er eine Weile trauern und sich dann neu verlieben würde. Wir waren so berauscht von unserer Liebe, davon, dass es so richtig und absolut unausweichlich war, ihr zu folgen, dass wir verkannt haben, wie schwer es für Hannes war, das alles überhaupt zu ertragen. Und als wir es erkannten, war es längst zu spät. Wir hätten nicht mehr anhalten und umkehren können. Nichts hätte uns mehr getrennt. Ich bin also schuld daran, dass Hannes in seiner Gärtnerei lebt, mit den Pflanzen spricht und den Menschen den Rücken zukehrt. Sein Bruder hat ihn gelehrt, dass den Menschen nicht zu trauen ist.«
»Aber du hast es ja nicht mit Absicht gemacht. Du hast ihm doch nicht mit Absicht und aus Berechnung die Frau ausgespannt, ihr habt euch doch geliebt. Du kannst nichts dafür!«
»Ja und nein. Wir haben uns geliebt und in Kauf genommen, dass jemand anders deshalb leidet. Ich würde Hannes gerne wiedersehen. Jetzt sind wir beide so alt geworden und mussten beide so lange ohne sie leben. Man würde meinen, dass uns das auch verbinden könnte. Tut es aber nicht.«
»Und als Mama starb?« Nina sah ihn fragend an, und es dauerte eine Weile, bis er antworten konnte.
»Wenn ich dich nicht gehabt hätte … Ich wollte ohne sie nicht leben, ich wusste nicht, wie das gehen sollte, ohne sie weiterleben. Ich wusste nur, dass ich das unserem Kind nicht antun darf, dass es die Mutter und dann auch noch den Vater verliert. Du hast mir das Leben gerettet, du warst eine kleine Maus und hattest keine Ahnung davon, dass du jede Nacht aufs Neue deinen Vater rettest. Abends war es immer am schlimmsten. Tagsüber hat
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