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Wenn nicht jetzt, wann dann?

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Titel: Wenn nicht jetzt, wann dann? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Malou
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meist Englisch, manchmal komme ich aber auch mit Deutsch oder mit ein paar Brocken Französisch oder Spanisch weiter.
    Inzwischen bin ich bereits stolzer Besitzer von sieben Pilgerstempeln, die alle in schönster Aufmachung und zum Teil mit interessanten Abbildungen meinen Pilgerpass zieren — eine Augenweide!
    Also, nach einer Woche fühle ich mich schon wie ein Profi!

8. Tag:
    Navarrete — Nájera (14 km), 12. Juni

    Inzwischen habe ich von einigen Mitpilgern gehört, dass in schwierigem Gelände eine Wegstrecke von zwei bis drei Kilometern pro Stunde eine gute Leistung bedeutet. Ich habe auch schon gemerkt, dass ich hier niemals das Zeit- Entfernungsverhältnis von zu Hause anwenden kann, denn zu Hause schaffe ich eine 10-km-Walkingstrecke in einer Stunde und 45 Minuten.
    Die vierzehn Kilometer heute gestalten sich erwartungsgemäß wieder anders. Seit 6.30 Uhr bin ich unterwegs. Der Weg ist einfach heute, eben, kaum Steigung, doch verläuft er über lange Strecken neben der Schnellstraße und ist daher landschaftlich nicht so schön. Auch ist es warm; schon beim Losgehen laufe ich in kurzer Hose und ausgeschnittenem T-Shirt. Trotzdem brauche ich fast jede Stunde eine Pause: Rucksack absetzen, trinken, kurz hinsetzen und ab und zu etwas essen. In den Pausen sehe ich stets mehrere Pilger und Pilgerinnen an mir vorbeiziehen, die allein oder zu zweit unterwegs sind, viele jung, so um die zwanzig Jahre, aber einige auch in meinem Alter oder älter.
    Nach zwei Stunden verändert sich das Landschaftsbild, der Weg führt von der Straße weg durch Weinberge — Weinreben überall, dazwischen stets imposante Ausblicke über das weite Tal, auf die Berge dahinter. Zwischendurch sind Felsgruppen zu sehen, riesige Steine zu großen Haufen gestapelt. Was für eine Landschaft!

    Schließlich gibt es wieder übereinander gestapelte Wunschsteine, zu denen ich auch einen lege und mir etwas wünsche. Ich glaube daran und hoffe, dass mein Wunsch in Erfüllung gehen wird. Wenig später erreiche ich einen Zaun, in dessen Maschengeflecht die Pilger lauter Kreuze aus Stöcken gesteckt haben. Ich bin irritiert, gehe weiter und mache nach längerer Wegstrecke das Gleiche. Dieses hier ist ansteckend, ich weiß nicht, warum, es berührt mich, und ich fühle mich ergriffen und verbunden mit all den anderen Pilgern, die diesen Weg schon gegangen sind und noch gehen werden. Nach weiteren dreißig Minuten stehe ich auf einmal an einer weißen Wand, die den Weg säumt, mit folgender Aufschrift in Deutsch und auch Spanisch:

Staub, Schlamm, Sonne und Regen,
das ist der Weg nach Santiago.
Tausende von Pilgern
und mehr als tausend Jahre.

Wer ruft dich, Pilger?
Welch ’ geheime Macht lockt dich an?
Weder ist es der Sternenhimmel
noch sind es die großen Kathedralen,

weder die Tapferkeit Navarras
noch der Rioja-Wein,
nicht die Meeresfrüchte Galiciens
und auch nicht die Felder Kastiliens.

Pilger, wer ruft dich?
Welch’geheime Macht lockt dich an?
Weder sind es die Leute unterwegs
noch sind es die unendlichen Traditionen,

weder Kultur und Geschichte
noch der Hahn Sto. Domingos,
nicht der Palast von Gaudí
und auch nicht das Schloss Ponferradas.

All' dies sehe ich im Vorbeigehen
und dies’ zu sehen ist Genuss.
Doch die Stimme, die mich ruft,
fühle ich viel tiefer in mir.

Die Kraft, die mich vorantreibt,
die Macht, die mich anlockt,
auch ich kann sie mir nicht erklären.
Dies kann allein nur Er dort oben.

(E.G.B.)

    Wieder fühle ich mich ergriffen, heute schon das zweite Mal. Mir kommen richtig die Tränen, und ich suche erst einmal nach einem Taschentuch und empfinde eine Verbundenheit mit Tausenden von Pilgern, die vor mir diesen Weg beschritten haben. So entscheide ich, dass ich diese Worte, die ich soeben gelesen habe, notiere.
    Sollte der Pilgergedanke doch ansteckend sein? Was macht dieser Weg mit den Menschen, wenn man sich auf ihn einlässt? So ein bisschen wird mir das alles fast unheimlich. Ich bin nun wirklich nicht der religiöseste Mensch und kann mich des Zaubers dieses Weges trotzdem immer weniger entziehen.
    Gedankenverloren gehe ich weiter. Ich fühle mich zufrieden, friedlich, entspannt und genieße diesen schönen Tag in freier Natur. Auch dieser Tag bringt mir wieder Neues, er bewegt etwas in mir, was ich noch nicht so recht in Worte fassen kann.
    So gegen 12.00 Uhr — ich bin nun schon wieder fünfeinhalb Stunden unterwegs — finde ich ein schattiges Plätzchen unter Büschen, breite meine grüne Fleecedecke aus und

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