Wenn nicht jetzt, wann dann?
und das hat sicher seinen Preis.
Die Altstadt von Burgos ist ebenfalls sehenswert, sorgfältig restaurierte Häuser in verschiedenen Farben, viele nicht mit den bekannten schmiedeeisernen Minibalkonen, sondern mit kleinen Wintergärten, die hübsch und gepflegt anzusehen sind. Wahrscheinlich ist es hier einfach kühler als in Pamplona, sodass diese veränderte Bauweise Sinn macht.
Ich schlendere von einem monumentalen Platz zum anderen und genieße die entspannte, idyllische Atmosphäre vor der Kulisse der spanischen Häuser. So recht kann ich mich nicht entschließen, weitere Besichtigungen, z.B. des castillos, das vier Kilometer außerhalb liegt, vorzunehmen, denn heute mal etwas kürzer zu treten, tut mir gut. Die letzten Tage waren doch recht anstrengend, und ich genieße es, heute Entspannung zu finden und weniger zu laufen. Obwohl meine körperliche Verfassung sehr gut und ohne jegliche Beschwerden ist, fühle ich mich von den Anstrengungen der letzten Tage erschöpft und brauche einfach Zeit, um die vielen, neuen Eindrücke zu verarbeiten. Schließlich besorge ich mir doch noch einen Stadtplan von der Innenstadt, den es kostenfrei in der Touristinformation gibt, und laufe sehenswürdige Baudenkmäler, wie die alten Stadttore, ab.
Ich fühle mich unabhängig und genieße diese neuen Ausblicke, stärke mich mit einem Cappuccino und bocadillo und freue mich meines Lebens. Die Sonne scheint, und immer wieder treffe ich auf Pilger in kleinen Gruppen und tausche Informationen aus. Die Pilgerschaft ist international, aber vielfach auch deutschsprachig, sodass Konversation nicht viel Mühe macht. Ich fühle mich aufgehoben in der »Familie« der Pilger, sodass keine Einsamkeit aufkommt.
Ansonsten stelle ich fest, dass mir diese erste Pilgerwoche gereicht hat, eine Bilanz meines Lebens zu ziehen, und ich habe ernsthaft angefangen zu prüfen, wie es weitergehen soll. Auch habe ich für mich festgestellt, dass ich nicht so viel brauche, um zufrieden und glücklich zu sein. Es gibt zurzeit viel weniger von allem — weniger Kleidung, Essen, Verpflichtung als zu Hause üblich — , dafür aber Abwechslung, neue Landschaften und Menschen im Überfluss, sodass viele Gedankenprozesse angestoßen und weitergedacht werden können. Dazu passt, dass ich bisher auch im schlechtesten Zimmer stets einen Fernseher hatte, diesen aber noch kein einziges Mal angeschaltet habe. Leben aus zweiter Hand ist hier also nicht nötig, denn ich lebe im Heute und Jetzt und bin glücklich dabei. Auch gilt es, Gewohnheiten des bisherigen Lebens zu überdenken und neue Ziellinien festzulegen. Nachrichten, Zeitungen — all das habe ich bisher nicht vermisst. Ich lese Reiseführer und achte auf meine Umwelt, und das ist besser für mich als alle Schreckensmeldungen dieser Welt. Weniger ist mehr, auch das ist meine Erkenntnis!
Im Getriebe des Alltags sind es offensichtlich stets die Frauen, die im Alltag untergehen, die so sehr in ihren Kreis der Pflichten von Beruf und Familie eingebunden sind — zumal, wenn Kinder zur Familie gehören — , dass sie über Jahre hinweg keine Zeit mehr für sich selbst haben. Und hier nun, auf meiner Reise, bemerke ich von Tag zu Tag mehr, was ich alles vermisst und über Jahre hinweg gar nicht mehr bemerkt habe. Es fällt mir wie Schuppen von den Augen, dass ich gerade das Alleinsein genieße. Niemand zerrt an mir herum, es gibt keinen, nach dem ich mich richten muss. Ich teile meine Tagesabläufe selbst ein und entscheide spontan und nach meinem eigenen Befinden, wie lange ich laufe, wann ich Pause mache, welches Geschäft ich mir näher ansehe, wo ich mein Eis esse und vieles andere mehr. Das führt bei mir dazu, dass ich absolut zufrieden, glücklich und entspannt bin und alles Unverhoffte, das mir begegnet, sehr genießen kann.
10. Tag
Burgos – León (285 km), 14. Juni
Um 5.45 Uhr klingelt mein Handywecker und ich mache mich startbereit für einen neuen Tag. Heute will ich mit dem Bus die Strecke bis León fahren. Als ich, bepackt wie immer, aus dem Haus heraustrete, fängt es gerade an zu regnen. Ich fühle mich mit meiner kurzen Hose und T-Shirt deplaziert und suche meine Regenjacke heraus. Der Busbahnhof befindet sich um die Ecke, sodass ich relativ schnell wieder im Trocknen bin. Ich löse am Schalter mein Busticket: 12,65 € bis León, Abfahrt 6.45 Uhr. Der Bus steht schon da, und nach kurzer Zeit kann ich einsteigen.
Mit mir reisen im Bus mehrere Pilger mit großem Gepäck. Einer fällt mir
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