Wenn nur dein Lächeln bleibt
Lebensfreude anstecken: »Du bist wirklich die Einzige, die morgens um sieben schon laut lachen kann!«
Vor acht Jahren ist die Behinderteneinrichtung umgezogen, ans andere Ende der Stadt. Als wir vor Kurzem mit Anja im Auto noch einmal die alte Strecke fuhren, weil wir dort in der Nähe etwas zu erledigen hatten, ist sie beim Anblick des Ortsschilds in frenetischen Jubel ausgebrochen. Ihre Arme schlenkerten wie wild, und ihr gesamter Bewegungsapparat war gar nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen. Zuerst wussten wir gar nicht, was sie plötzlich so aus der Fassung gebracht hatte, bis uns einfiel, dass hier mal ihre Fördereinrichtung gewesen war. Sie hat sich nach acht Jahren noch an die Fahrt dorthin erinnert!
Auch kreischt sie regelmäßig vor Wonne los, wenn sie nach einer ihrer Ferienreisen wieder über die Berliner Brücke fährt. Berliner Brücke bedeutet: nach Hause kommen.
Anja ist »erwachsen« geworden. Und damit auch ruhiger und ausgeglichener als früher. Sie wiegt vierzig Kilo und ist etwa einen Meter vierzig groß. Ihre Wirbelsäulenverkrümmung ist noch schlimmer geworden. Anjas innere Organe liegen dort, wo sie Platz gefunden haben, also nicht dort, wo sie eigentlich hingehören. Sie wird immer noch gewindelt, hat das Sprechen nicht gelernt und muss gefüttert werden. Ihre Nahrung püriere ich mit einer Küchenmaschine und flöße sie ihr teelöffelweise ein. Auch das Trinken erfolgt über den Teelöffel. Sie kann nicht alleine sit zen. Im Rollstuhl wird sie angeschnallt, damit sie nicht zur Seite oder nach vorn wegrutschen kann. Einige Macken, wie zum Beispiel das ständige Schnalzen mit der Zunge, hat sie sich schon abgewöhnt. Doch ihren Husten, mit dem sie auf sich aufmerksam macht, setzt sie immer noch gern ein, wenn sie mal wieder im Mittelpunkt stehen will. Auch nachts schläft sie nicht immer durch, sodass ich des Öfteren aufstehen muss, um sie zu beruhigen.
Ansonsten ist Anja sehr geduldig und dankbar für jede Kleinigkeit. Sie genießt es, wenn jemand mit ihr spazieren geht, sie liebt Musik und hat es gern, wenn der Fernseher läuft. Das Sandmännchen meiden wir nach wie vor.
Ich versuche immer, ihre Würde zu bewahren. Das fängt mit modischer Kleidung an und hört bei ihren geliebten Ketten auf. Mit Stolz trägt sie Ringe. Sie genießt es, wenn vertraute Besucher kommen, ihr Outfit zur Kenntnis nehmen und dann entsprechend kommentieren. Dann könnte sie platzen vor Stolz! Überhaupt genießt sie es, wenn wir Besuch bekommen. Anja hat noch nie in ihrem Leben schlechte Erfahrungen mit Menschen machen müssen. Wir lassen einfach keine schlechten Menschen an sie heran!
Anja ist ein lebensbejahender Mensch. Und das ist eigentlich auch schon die Antwort auf die Frage, ob sich ein Leben für und mit Anja lohnt. Wir lieben sie alle abgöttisch und wünschen uns nichts mehr, als dass Anjas Gesundheitszustand noch lange so bleibt, wie er jetzt ist.
Ich bin in diesem Sommer sechzig Jahre alt geworden. Seit einigen Jahren gehe ich nicht mehr arbeiten. Anja wird um vierzehn Uhr von ihrer Einrichtung zurückgebracht, und ich spüre, dass es gut für sie ist, wenn ich zu Hause bin.
Sabine hat sich zu einer intelligenten, bildhübschen Frau entwickelt. Trotz ihrer vorzeitig geschlossenen Fontanelle! Hätten wir damals dieser unsäglichen Schädeloperation zugestimmt und uns von den wüsten Prophezeiungen einschüchtern lassen, hätte sie ihr Abitur und ihr Betriebswirtschaftsstudium bestimmt nicht so glatt hingelegt! Sie hat uns vor zwei Jahren einen bezaubernden kleinen Enkel geschenkt, der uns alle auf Trab hält.
Ihr Lebenspartner Robert ist nicht nur ein wunderbarer Vater für den kleinen Elias, sondern auch ein wunderbarer Schwager für Anja. Er hütet Anja, wenn ich mit meiner Tochter Sabine mal was unternehmen will. Und er war es auch, der bei uns zu Hause das Sandmann-Erlebnis hatte!
Sabine hätte Robert nie zu ihrem Lebensmenschen erwählt, wenn er mit Anja nichts anfangen könnte. Er geht genauso liebevoll und selbstverständlich mit ihr um wie wir alle.
Sabine ist zu meiner engsten Vertrauten und zu einer großen Stütze geworden. Wir haben ein inniges Verhältnis und unternehmen viel miteinander.
Bernd ist inzwischen sechsundfünfzig Jahre alt und hat seine Selbstständigkeit vor einigen Jahren auf gegeben. Er wollte endlich mehr Zeit für seine Familie haben. Heute arbeitet er als Beleuchter in einem großen Opernhaus. Mit den Jahren hat er unser Haus in ein echtes Traumschloss
Weitere Kostenlose Bücher