Wenn nur noch Asche bleibt
Kugel hatte seine ungeschützte Kehle nur knapp verfehlt. Einen Fingerbreit höher, und Daniel wäre mit großer Wahrscheinlichkeit innerhalb von dreißig Sekunden verblutet.
„Alles in Ordnung?“ Elena erhob sich schwankend. Mein Gott, wäre er nicht gewesen … nein, sie wollte nicht darüber nachdenken. Der Tod war etwas, das sich ihrem Begreifen entzog. Insbesondere, wenn sie so nah vor ihm stand, dass sie praktisch seinen Atem riechen konnte. Beinahe hätte Daniel dank ihrer Dummheit das Zeitliche gesegnet. Die Knie drohten, unter ihr nachzugeben. Wie im Halbschlaf hob sie seine Waffe auf und reichte sie ihm.
„Danke.“ Er steckte sie ruppig in das Holster. „Wie geht’s dir? Habe ich dich platt gedrückt?“
Elena schüttelte den Kopf. „Nein, mit mir ist alles okay.“
„Das hört man gern.“
Vorsichtig betastete er seinen Bauch, wo ihn vermutlich die zweite Kugel erwischt hatte. Das Mindeste, was ihm blühte, waren ein paar schmerzhafte, blaue Flecken. Manchmal gingen auch Knochen zu Bruch oder der Angeschossene wurde mit Quetschungen und inneren Blutungen beglückt. „Ich glaube, dieses Arschloch hat mein Abendessen neu sortiert.“
„Danke.“ Ihre Stimme war leise und schwach. „Du hast … ich weiß nicht, wie …“
„Schon gut. Solange du aus deinen Fehlern lernst, passieren sie nicht umsonst.“
„Trägst du immer und überall eine schusssichere Weste?“
„Inzwischen ja.“
Daniel nahm die in Tränen aufgelöste Frau in Augenschein und begann, beruhigend auf sie einzureden. Zu Elenas großer Verblüffung tat er es auf Spanisch. Behutsam näherte er sich ihr, leise Worte raunend, doch die Körpersprache der Mexikanerin war eindeutig. Zitternd wie ein waidwundes Tier kroch sie in die Ecke zwischen Fernsehsessel und Schrank, schlang die Arme um ihre angezogenen Knie und brach in Tränen aus.
„Kümmere dich bitte um sie.“
Daniel brach seinen Annäherungsversuch ab, nickte Elena zu und fischte das Handy aus seiner Anzugtasche. Als wäre sie von allem abgekapselt, hörte sie undeutlich, wie er zu reden begann.
„Ja, Verstärkung. Und einen Krankenwagen, wir haben hier eine Verletzte … der Ehestreit ist eskaliert … nein, nicht nötig, Sir. Bitte schicken Sie jemanden vorbei.“
Elena wagte nicht, die Frau zu berühren. Sie brachte der Mexikanerin eine Schüssel mit warmem Wasser und einen Lappen, sodass sie sich das Blut von Gesicht und Händen waschen konnte. Während sie neben der Frau saß und beruhigend auf sie einredete, wuchs ihre Hilflosigkeit. Jeder war allein in dieser Welt, gegen deren Schlechtigkeit nichts und niemand etwas ausrichten konnte. Sie kämpfte gegen einen übermächtigen Schatten, der weiß Gott wann begonnen hatte, diese Welt zu ersticken. Heraufbeschworen von menschlicher Unzulänglichkeit, trieben die Dämonen ihr Unwesen. Gier und Neid. Eifersucht, Maßlosigkeit und die Sucht nach Macht. Warum war es dieser Spezies unmöglich, in Eintracht zu leben? Vielleicht, weil es keinem Menschen gelang, dauerhaft zufrieden zu sein? Es musste ein Fehler im System sein. Eine falsche Programmierung. Oder die Schöpfung hatte schlicht und einfach Müll produziert, der, kaum dass er sich entfaltet hatte, bereits wieder auf der Abschussliste stand.
Plötzlich vernahm Elena die Stimme eines Kindes.
„Ich kümmere mich darum.“ Daniel verschwand im Flur, der vom Wohnzimmer zu zwei weiteren Zimmern führte. „Bleib du bei ihr. Die Einheit müsste jeden Moment kommen.“
Elena nickte willenlos. Sie hörte, wie eine Tür klappte, dann erklang die sanfte, dunkle Stimme ihres Partners. Eine zarte Antwort folgte. So zart, dass sie kaum zu hören war.
„Ich bin gleich wieder bei Ihnen.“ Vorsichtig berührte sie die Schulter der Frau, um sie wissen zu lassen, dass ihre Worte ein Versprechen waren. „Nur einen kleinen Moment.“
„Lieben Sie ihn?“
Die Stimme der Mexikanerin war schwach. Ihr Blick aus tränenverschleierten Augen traf Elena mitten ins Herz. In ihm lag kalte, trostlose Hoffnungslosigkeit. Es waren die Augen eines Menschen, der vom Leben gebrochen worden war.
„Nein. Oder … nun ja, nicht wirklich. Wir kennen uns erst seit ein paar Tagen.“
Das war nichts als die Wahrheit. Lieben tat sie ihn nicht, das war nach dieser kurzen Zeit kaum möglich. Wohl aber machte er sie verrückt. Und das nicht nur in einer Hinsicht. Sie hatte die atemberaubendste Nacht ihres Lebens mit ihm verbracht und wurde halb wahnsinnig vor Sehnsucht, diese Nähe
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