Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
auf. Keiner bat sie, sich zu ihnen zu setzen.
Joel war am Telefon sehr mitfühlend gewesen, aber er hatte Dienst und konnte nicht vorbeikommen. Sie solle es nicht so schwer nehmen, tröstete er sie, die meisten Leute benähmen sich merkwürdig, wenn sie unter Schock stünden.
In ihrem Zimmer wurde Daisy schmerzlich bewusst, wie viel sie an ihre Mutter erinnerte: die Teddybären in Gymnastikanzügen – einer für jeden Turnwettbewerb, an dem sie als Teenager teilgenommen hatte, der blaue, mit Krausen besetzte Morgenmantel, den Lorna ihr im vergangenen Jahr genäht hatte – er hing noch an dem Haken an der Tür –, die wunderschöne gerahmte Fotomontage, die Lorna liebevoll zusammengestellt hatte, weil sie weiteren Klebestreifenflecken auf der Tapete hatte vorbeugen wollen.
Hatte ihre Mum geahnt, dass es nach ihrem Tod so kommen würde? Hatte sie als Einzige die Familie zusammengehalten? Hatte sie gewusst, dass ohne sie alles auseinander brechen würde, und Daisy deshalb gedrängt, ihre leibliche Mutter zu suchen?
Daisy drückte Fred fester an sich und vergrub schluchzend das Gesicht in seinem Fell. Wenigstens er hielt noch zu ihr.
Jemand klopfte leise an die Tür. Daisy fuhr erschrocken hoch und wischte sich rasch die Tränen von den Wangen. »Herein!« Sie dachte, es sei Tom, der oft spätabends noch auf einen Plausch zu ihr kam, doch zu ihrer Überraschung stand ihr Vater in der Tür.
Einen Augenblick sah er sie nur an, vielleicht, weil ihm ihre rot geränderten Augen auffielen. Er war als Gutachter in einer Firma tätig, die sich auf denkmalgeschützte Objekte spezialisiert hatte, und witzelte oft, er werde einem alten Haus immer ähnlicher: Graue Fäden zogen sich mittlerweile durch sein braunes Haar, und er ging ein wenig aus der Form. Doch er hielt sich mit Federballspielen und Segeln fit und sah noch immer bemerkenswert jung und gut aus für einen Endfünfziger. Jetzt allerdings blickten seine braunen Augen düster und ernst. Daisy hatte ihn noch nie so niedergeschlagen oder verunsichert gesehen.
»Wir müssen miteinander reden«, sagte er leise. »Es tut mir Leid, Dizzie, ich war so mit mir selbst beschäftigt, dass ich
gar nicht daran gedacht habe, was du durchgemacht haben musst.«
Der Spitzname, den sie von den Zwillingen bekommen hatte, weil sie als Kleinkinder »Daisy« nicht richtig hatten aussprechen können, war ihr geblieben. Er passte zu ihr: Im Gegensatz zu ihrem Vater und den Zwillingen, die intellektuelle Interessen hatten, war Daisy nämlich ein flatterhafter Wirrkopf, der sich für vieles interessierte, aber nichts richtig beherrschte. Bei den Büchern, die sie las, bevorzugte sie leichte, pikante Unterhaltung. Sie mochte Komödien, liebte Tanzen, Schlittschuhlaufen und Gymnastik, alles, was mit schnellen Bewegungen verbunden war und das Auge ansprach. Eine ihrer herausragenden Eigenschaften aber war ihre Fähigkeit, zu vergeben und zu vergessen. Als sie sah, wie ihr Vater litt, dachte sie nicht mehr an ihre verletzten Gefühle.
»Es ist schon okay, Daddy«, erwiderte sie. »Komm nur rein.«
Er setzte sich auf die Bettkante, streichelte den Hund und fragte, was genau passiert sei.
Daisy erklärte, Lorna habe nicht gewollt, dass sie ihn oder die Zwillinge verständigte.
»Das sieht ihr ähnlich«, meinte er und kraulte Fred hinter den Ohren. »Ich hätte wahrscheinlich sowieso nicht schneller da sein können. Aber ich war einfach nicht darauf gefasst gewesen, Daisy. Gestern Abend ging es ihr noch so gut.«
»Heute Morgen, als ich ihr beim Baden half, auch«, erwiderte Daisy und schmiegte sich an ihren Vater. »Sie sprach noch davon, ein paar neue Chrysanthemen für den Herbst zu pflanzen. Als ich später nach ihr sah, dachte ich, sie schliefe, aber da sagte sie, sie glaube, es gehe zu Ende, und wollte, dass ich ihre Hand hielt.« Daisy konnte nicht mehr weitersprechen.
Ihr Vater nahm sie in die Arme. »Sie wird uns allen schrecklich fehlen«, bemerkte er traurig. »Nächsten Monat hätten wir unseren dreißigsten Hochzeitstag feiern können. Ich habe immer geglaubt, wir würden zusammen alt werden.«
Daisy fühlte sich jetzt, da er sie festhielt und wieder ganz der Alte war, schon besser. Sie überlegten gemeinsam, wen sie sofort benachrichtigen sollten und welcher Anruf bis zum nächsten Tag warten konnte.
»Mir graut bei dem Gedanken, das alles x-mal wiederholen zu müssen«, bekannte John müde und fuhr sich durchs Haar. »Da es keinen Grund für eine Autopsie gibt, kann die
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