Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
Aber kaum war sie wieder zu Hause eingezogen, hatte alles von vorn begonnen. Da war Daisy einundzwanzig gewesen und ein bisschen vernünftiger. Also versuchte sie, das Kriegsbeil zu begraben, und schlug einen Kinobesuch oder einen Einkaufsbummel vor. Doch Lucy kam ihr kein bisschen entgegen, und so endeten die gemeinsamen Ausflüge meistens in einem wüsten Streit.
Daisy kehrte in die Küche zurück. Fred in seinem Körbchen schaute sie schwanzwedelnd und voller Vorfreude an. »Nein, nein, wir gehen jetzt nicht Gassi.« Sie beugte sich hinunter und streichelte ihn. »Es ist mitten in der Nacht.« Daisy schenkte sich eine Tasse Milch ein und wünschte, sie hätte mit ihrer Mum über Lucy geredet. Vielleicht hätte Lorna Rat gewusst. Aber die beiden Mädchen hatten das stets untereinander ausgemacht und ihre Streitigkeiten nie vor den Eltern ausgetragen. Daisy hatte ein schlechtes Gewissen, als sie daran dachte, wie oft sie sich in Abwesenheit der Eltern gezankt hatten.
»In Zukunft mach ich das jedenfalls nicht mehr mit«, sagte sie zu sich selbst, während sie die Tasse in die Mikrowelle stellte. »Es wird Zeit, dass wir uns wie Erwachsene benehmen.«
Da es eine ungewöhnlich warme Nacht war, nahm sie ihre Zigaretten aus der Handtasche und ging in den Garten, um eine zu rauchen. Fred trottete hinter ihr her.
Sie hatte nie in Anwesenheit ihrer Eltern geraucht, weil beide Nichtraucher waren und es ihr deshalb einfach nicht richtig erschien. Meistens rauchte sie, wenn sie mit Freunden ausging, aber im Garten zu sitzen und genüsslich an einer Zigarette zu ziehen, hatte etwas herrlich Verbotenes. Joel war gegen das Rauchen, und Lucy hielt es natürlich für das Letzte. Tom dagegen rauchte selbst gelegentlich eine, und abends saßen sie oft noch draußen auf eine Zigarettenlänge zusammen.
Fred sprang zu Daisy auf die Hollywoodschaukel. Sie stieß sich sachte ab, zündete sich eine Zigarette an und dachte an Joel. Ob er sich für die Beerdigung wohl würde freinehmen können?
Plötzlich gab Fred ein leises Knurren von sich. Daisy drehte sich um und sah Tom, der im Schlafanzug auf sie zukam.
»Hi!«, rief sie leise. »Kannst du auch nicht schlafen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kapier das einfach nicht, Dizzie. Als ich mich heute Morgen von ihr verabschiedet habe, schien es ihr noch so gut zu gehen.«
Er nahm die Zigarette, die Daisy ihm anbot, und setzte sich neben sie. Tom ähnelte seiner Zwillingsschwester nur äußerlich. Vom Wesen her unterschieden sich die beiden ganz erheblich: Obwohl er genauso gescheit war wie Lucy, spielte er gern den Begriffsstutzigen. Er war aufmerksamer und rücksichtsvoller als Lucy und ging großzügiger mit seiner Zeit, seiner Zuneigung und seinem Geld um. Bei seinen Tutoren und Kommilitonen war er gleichermaßen beliebt. Er war ein guter Sportler, begeisterte sich für Rockmusik und besaß einen ausgeprägten Sinn für Humor.
Sie unterhielten sich eine Weile über ihre Gefühle für ihre Mutter. Tom brach unvermittelt in Tränen aus. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so wehtut«, flüsterte er. »Ich hab geglaubt, ich würde beinahe erleichtert sein über ihren Tod, weil er sie von ihren Schmerzen erlösen würde. Aber jetzt bin ich nur wütend, Dizzie. Ich denke dauernd: Warum gerade sie? Es laufen so viele nutzlose, jämmerliche Typen herum! Warum kriegen die es nicht?«
Daisy wusste, er erwartete keine Antwort, er musste einfach seinem Herzen Luft machen. Als sie tröstend die Arme um ihn legte, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie für ihn und Lucy eine Zeit lang den Platz ihrer Mutter würde einnehmen müssen.
Die Zwillinge, die nie von zu Hause fort gewesen waren, hatten seit der Grundschule dieselbe Klasse besucht und sich für ein College in West London anstatt für eine Universität in einer anderen Stadt entschieden. Ihre enge Beziehung hatte sie vor Einsamkeit, dem Drangsaliertwerden und den vielen anderen Dingen, unter denen Kinder zu leiden hatten, bewahrt. Daisy wusste noch, wie sie sie beneidet hatte, als sie noch ganz klein gewesen waren. Noch bevor sie richtig sprechen konnten, hatten sie sich in einer Art Geheimsprache verständigt, die nur den beiden geläufig war. Sie hatten oft im selben Bett geschlafen und teilten heute noch alles miteinander.
Ihre Mum war jedoch genauso wichtig für sie gewesen. Im Haus waren ihr die beiden auf Schritt und Tritt gefolgt. Die enge Bindung hatte, obwohl sie inzwischen zwanzig waren, bis zuletzt bestanden. Im
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