Wenn wir uns wiedersehen: Thriller (German Edition)
vergessen hat, zum Beispiel, ob er bei ihrem Eintreffen noch lebte oder schon tot war?«
»Ich bin überzeugt, daß Molly, so gut sie kann, die Wahrheit sagt.«
»Und das bedeutet?«
»Daß die Ereignisse jener Nacht so schmerzlich für sie gewesen sein müssen, daß sie sie tief in ihr Unbewußtes verdrängt hat. Ich weiß nicht, ob die Erinnerung jemals zurückkehren wird.«
»Wenn Sie sich doch an etwas erinnert – beispielsweise an ein Gefühl, daß vielleicht jemand im Haus gewesen ist, als sie zurückkam –, würde das Ihrer Ansicht nach der Realität entsprechen?«
John Daniels nahm die Brille ab und polierte sie. Als er sie wieder aufsetzte, wurde ihm klar, wie sehr er sie inzwischen brauchte. Ohne Brille auf der Nase fühlte er sich komischerweise auch beim Sprechen unsicher.
»Molly Lasch leidet an dissoziativer Amnesie. Das heißt, daß äußerst beängstigende und traumatische Erlebnisse bei ihr zu Gedächtnislücken geführt haben. Und der Tod ihres Mannes, ganz gleich, auf welche Weise er eingetreten ist, könnte ein Auslöser sein.
Manche Menschen in diesem Zustand sprechen gut auf Hypnose an und finden so wichtige und häufig zuverlässige
Erinnerungen an das Ereignis wieder. Vor dem Prozeß war Molly sofort bereit, sich einer Hypnosebehandlung zu unterziehen, aber es klappte nicht. Aber das ist nur allzu verständlich. Sie war wegen des Todes ihres Mannes am Boden zerstört und hatte schreckliche Angst vor dem bevorstehenden Prozeß. In ihrem erschütterten Zustand war eine erfolgreiche Hypnose praktisch unmöglich.«
»Besteht die Chance, daß die Erinnerung allmählich zurückkehrt, Herr Doktor?«
»Ich wünschte, ich könnte bejahen, daß Molly gute Aussichten hat, ihr Gedächtnis wiederzufinden und ihren Namen reinzuwaschen. Doch offen gestanden denke ich, daß das, woran sie sich irgendwann zu erinnern glauben wird, nicht zwangsläufig den Tatsachen entsprechen muß. Es ist durchaus möglich, daß sie ihre Gedächtnislücken mit Wunschvorstellungen füllt, die nicht notwendigerweise mit den wirklichen Ereignissen übereinstimmen müssen. Das nennt man retrospektive Gedächtnisfalsifikation.«
Nach ihrem Besuch bei Dr. Daniels blieb Fran eine Weile im Auto sitzen und überlegte, was sie als nächstes tun sollte. Die Redaktion der Greenwich Time war nur ein paar Straßen weiter. Plötzlich fiel ihr Joe Hutnik ein. Er arbeitete dort und hatte über Mollys Haftentlassung berichtet. Außerdem war er felsenfest von ihrer Schuld überzeugt. Hatte er auch den Prozeß beobachtet?
Er schien ein aufrechter Mann zu sein und war außerdem schon lange im Geschäft.
Vielleicht schon zu lange, flüsterte eine innere Stimme. Möglicherweise hat er auch über deinen Vater geschrieben. Möchtest du das wirklich riskieren?
Draußen verblaßte die Wintersonne. Dicke, graue Wolken zogen auf. Schließlich beschloß sie, es darauf ankommen zu lassen, und griff nach ihrem Handy.
Eine Viertelstunde später schüttelte sie Joe Hutnik die Hand. Er hauste in einem winzigen Büroverschlag neben der Nachrichtenredaktion der Greenwich Time , in der es von Computern wimmelte. Hutnik war etwa fünfzig und hatte buschige, dunkle Brauen und aufgeweckt blitzende Augen. Er bot ihr einen Platz auf einem Zweisitzer an, dessen andere Hälfte mit Büchern vollgestapelt war.
»Was führt Sie in das ›Tor zu Neuengland‹, wie man unser hübsches Städtchen nennt?« fragte er und sprach weiter, ohne Frans Antwort abzuwarten. »Lassen Sie mich raten: Molly Lasch. Ich habe gehört, sie machen für Wahre Verbrechen eine Reportage über sie.«
»Es hat sich schneller herumgesprochen, als mir lieb ist«, entgegnete Fran. »Joe, können wir offen miteinander reden?«
»Natürlich. Solange es mich nicht meine Schlagzeile kostet.«
Fran zog die Augenbrauen hoch. »Dann bin ich bei Ihnen ja richtig. Frage: Haben Sie über Mollys Prozeß berichtet?«
»Wer hat das nicht? Da wir damals Sauregurkenzeit hatten, kam uns die Sache sehr gelegen.«
»Joe, ich könnte mir die Informationen auch aus dem Internet holen, aber ganz gleich, wie viele Zeugenaussagen man liest, man muß sich die Zeugen selbst ansehen, um festzustellen, ob sie lügen – vor allem im Kreuzverhör. Sie halten Molly offenbar für die Mörderin ihres Mannes.«
»Absolut.«
»Nächste Frage: Welche Meinung hatten Sie von Dr. Gary Lasch?«
Joe Hutnik lehnte sich zurück, drehte sich auf seinem Bürostuhl hin und her und überlegte. »Fran, ich habe mein
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