Wenn wir uns wiedersehen: Thriller (German Edition)
ihren Schreibtisch ab und Dr. Daniels holte seinen Mantel aus dem Schrank. Die beiden sahen sich an.
»Soll der Telefondienst den Anruf entgegennehmen?« erkundigte sich Ruthie. »Außerdem hat Dr. MacLean jetzt Bereitschaft.«
John Daniels war müde. Er hatte eine Sitzung mit einem seiner schwierigsten Patienten hinter sich und spürte jeden Tag seiner fünfundsiebzig Jahre. Nun freute er sich auf zu Hause und war froh, daß die Dinnerparty, zu der er eigentlich mit seiner Frau eingeladen war, abgesagt worden war.
Doch eine innere Stimme riet ihm, den Anruf entgegenzunehmen. »Finden Sie heraus, wer es ist, Ruthie«, meinte er.
Verdattert blickte Ruthie vom Apparat auf. »Molly Lasch«, flüsterte sie. Den Mantel in der Hand, stand Dr. Daniels da und überlegte, wie er sich verhalten sollte, während Ruthie sagte: »Tut mir leid, aber der Herr Doktor ist schon weg, Mrs. Lasch. Er ist gerade zum Aufzug gegangen. Aber vielleicht erwische ich ihn ja noch.«
Molly Lasch. Nach kurzem Zögern nahm Dr. Daniels Ruthie den Hörer aus der Hand. »Ich weiß vom Mord an Annamarie Scalli, Molly. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Er hörte eine Weile zu. Dreißig Minuten später traf Molly in seiner Praxis ein.
»Entschuldigen Sie, daß es so lange gedauert hat, Herr Doktor. Die Polizei hat mein Auto nicht herausgerückt, und ich mußte mir ein Taxi rufen.«
Molly klang so erstaunt, als glaube sie ihre eigenen Worte nicht. Ihre Augen erinnerten Daniels an die eines Rehs im Scheinwerferlicht eines Wagens, obwohl erschrocken noch ein wenig zu milde ausgedrückt war. Sie wirkte völlig verängstigt, und er bemerkte sofort, daß sie wie damals nach Gary Laschs Tod wieder in Apathie zu versinken drohte.
»Warum legen Sie sich nicht auf die Couch, während wir uns unterhalten, Molly?« schlug er vor. Sie saß auf einem Stuhl vor seinem Schreibtisch. Als sie nicht reagierte, ging er zu ihr, schob die Hand unter ihren Ellenbogen, wobei er
spürte, wie erstarrt sie war. »Kommen Sie, Molly«, forderte er sie auf und half ihr beim Aufstehen.
Sie ließ es geschehen. »Ich weiß, es ist schon spät. Es ist sehr nett, daß Sie Zeit für mich haben, Herr Doktor.«
Daniels erinnerte sich an das hübsche, wohlerzogene Mädchen, das er damals im Club kennengelernt hatte. Ein kleiner Sonnenschein aus gutem Hause und mit ausgezeichneten Manieren. Niemand hätte auch nur im Traum daran gedacht, daß ihr Leben eine solche Wendung nehmen würde. Nun wurde sie eines zweiten Verbrechens verdächtigt, und die Polizei durchsuchte ihr Haus nach Beweisen gegen sie. Wehmütig schüttelte er den Kopf.
In der nächsten Stunde schilderte sie ihm – wohl auch, um es sich selbst klarzumachen –, warum sie unbedingt mit Annamarie hatte sprechen müssen.
»Was ist, Molly? Sagen Sie mir, was Sie denken.«
»Inzwischen weiß ich, daß ich mich damals für eine Woche nach Cape Cod geflüchtet habe, weil ich so wütend war. Doch das lag nicht daran, daß ich von Garys Verhältnis mit Annamarie erfahren hatte. Eigentlich war ich nicht zornig, weil Gary mit einer anderen Frau schlief, sondern weil ich mein Baby verloren hatte, während sie schwanger war. Es hätte mein Kind werden sollen.«
Erschüttert hörte John Daniels zu.
»Doktor, ich wollte Annamarie sehen, da für mich nur sie als Mörderin in Frage kam, wenn ich es nicht war. Schließlich hatte sie für jene Nacht kein Alibi. Und weil ich das Telefonat zwischen den beiden belauscht hatte, wußte ich, wie böse sie auf ihn war.«
»Haben Sie sie gestern abend danach gefragt?«
»Ja, und ich glaubte ihr, als sie es abstritt. Aber sie hat mir gesagt, Gary sei froh gewesen, daß ich eine Fehlgeburt hatte. Er habe sich von mir scheiden lassen wollen, und ein Kind hätte das nur verkompliziert.«
»Männer erzählen ihren Geliebten oft etwas von einer Scheidung. Meistens stimmt es nicht.«
»Es ist mir klar, daß er sie vielleicht belogen hat. Doch als er sagte, er sei erleichtert über die Fehlgeburt, war es die Wahrheit.«
»Das hat Annamarie Ihnen gesagt?«
»Ja.«
»Und wie haben Sie sich dabei gefühlt?«
»Es macht mir solche angst, Herr Doktor, doch in diesem Augenblick haßte ich sie mit jeder Faser meines Körpers, weil sie diese Worte ausgesprochen hatte.«
Mit jeder Faser meines Körpers , dachte Dr. Daniels.
Molly redete wie ein Wasserfall. »Wissen Sie, was mir in diesem Moment eingefallen ist, Herr Doktor? Ein Satz aus der Bibel: Rachel betrauerte ihre verlorenen Kinder und
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