Wenn Zaertlichkeit dein Herz beruehrt
ihr wahres Geschlecht hinter ihren Masken.
»Ich kann natürlich verstehen, dass Sie sich sicherer damit fühlen«, meinte er und betrachtete den Himmel, der immer heller wurde. »Obwohl Sie dermaßen riechen, dass ohnehin kein Mensch freiwillig in Ihre Nähe käme.«
Victoria legte eine Hand auf seine Schulter, und Chris blickte sie lächelnd an. Es war ein Lächeln, das irgendetwas in ihrem Herzen anrührte. »Wie haben Sie eigentlich entdeckt, was mit Lucky passiert war?«, wollte sie wissen.
»Ich war auf dem Weg nach Hause und hörte, wie er mit sich selbst redete. Er hätte niemals nach Hilfe gerufen, er hat sich einfach selbst unterhalten, während er darauf wartete, dass ihn jemand fand.«
Er ist geistig zurückgeblieben, dachte sie. Und einsam. Du lieber Himmel, welche Möglichkeiten hatten Kinder wie er in diesem Jahrhundert? »Hat er denn keine Familie?«
Chris zog die Knie an, legte die Arme darauf und schüttelte den Kopf. »Einige Leute hier behaupten, er sei von einem Treck zurückgelassen worden, aber ich weiß es nicht. Irgendwann tauchte er einfach auf, allein und hungrig.« Chris konnte sich nur allzu gut an den Tag erinnern, an dem er den Jungen gefunden hatte. Luckys Rippen waren gebrochen gewesen, weil irgendwelche gelangweilten Trunkenbolde ihn wie einen Hund getreten hatten. »Man hatte ihn ziemlich schlecht behandelt, aber ich fürchte, er weiß ohnehin nicht, was gute Behandlung ist.«
»O doch, das weiß er.« Sie richtete sich auf und sammelte kleine Steinchen in ihrer Hand, um sie in den Abgrund zu werfen. »Er hat dieses Wissen nur tief in sich versteckt.«
Chris spürte den Schmerz, den sie empfand, und betrachtete ihr Profil. Sie hatte den letzten Satz mit ihrer natürlichen Stimme gesprochen. Er fand es mehr als irritierend, sie anzuschauen und zu wissen, was sich unter der Maske verbarg. Aber was verbarg sie tatsächlich?
»Sie beurteilen ihn, als würden Sie ihn kennen.«
»Ich kenne Kinder wie ihn, Marshal . Er ist -«, sie blickte zu Boden, und Chris hätte schwören können - so seltsam ihm das auch erschien -, dass sie gegen Tränen ankämpfte. »Kinder wie er sind etwas ganz, ganz Besonderes. Er braucht viel Geduld.«
»Wenn er nur lange genug irgendwo bleiben würde.« Er warf nun auch Steinchen, genau wie sie. »Ich habe vergeblich versucht herauszufinden, wo er sich versteckt, aber er ist einfach zu flink.«
Er liebt den Jungen, dachte sie und spürte plötzlich einen Kloß im Hals. Ein Grund mehr, sich nicht mit ihm einzulassen. Das Einzige, was sie hier zu interessieren hatte, war Ivy League. Denn sie kam aus einer anderen Zeit, einem anderen Leben.
»Wo wohnen Sie denn, Marshal ?«, wollte sie wissen.
Chris deutete auf den Abgrund, und sie stand auf, klopfte sich den Staub von der Jeans und machte ein paar Schritte, bis sie oben am Kliff stand. Von dort konnte sie hinab ins Tal blicken.
Victoria stieß einen leisen Pfiff aus. »Das ist ja ein richtiges Paradies!« Sie sah nicht, wie Chris lächelte, während sie seinen Besitz betrachtete, ein üppig grünes, mit vielen Bäumen bestandenes Tal, durch das sich ein kleiner Fluss schlängelte. Auf der ihnen zugewandten Seite stand eine Ranch mit zwei Scheunen und etlichen Weiden, auf denen Pferde stampften und trabten, um die morgendliche Kühle abzuschütteln. Eine große Herde tat sich am saftig grünen Gras gütlich. Es war ein so friedvolles Bild, dass es ihr fast den Atem nahm, und sie wünschte, sie hätte ihr Fernglas dabei. Aber auch so konnte sie Seth erkennen, Lucky vor sich im Sattel, der gerade auf das hübscheste Haus, das sie seit langem gesehen hatte, zuritt.
Irgendwie hatte sie sich nicht vorstellen können, dass Chris in einer solchen Umgebung lebte - aber sie hatte sich ja auch nie ernsthafte Gedanken darüber gemacht, wo und wie er wohnte. Plötzlich lief eine Frau auf die Veranda und rannte zu Lucky hin. Victoria spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog, aber sie untersagte sich, ihre Reaktion genauer zu erkunden. Abrupt wandte sie sich um und ging zu ihrem Pferd.
»Ich muss zurück - ich sollte mich vielleicht doch mal ein bisschen waschen.« Sie führte ihr Tier zu einem Felsbrocken, damit sie aufsitzen konnte, doch Chris verschränkte-die Hände, und sie akzeptierte seine Hilfe.
Sie blickte noch einmal in das Tal hinab. Chris stand immer noch neben ihr, eine Hand auf der Flanke des Pferdes, so nah, dass er fast ihren Schenkel berührte. Sie konnte die Hitze spüren, die von ihm ausging.
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