Wenn Zauberhaende mich beruehren
befahl Ruth Jordan.
Kady rutschte von der alten Frau fort. »Was geht hier vor sich? Ich habe Ihnen alles über mich erzählt, also wäre es doch nur höflich von Ihnen, mich endlich über das zu informieren, was ich Ihrer Meinung nur mit einem Schluck Brandy ertragen kann.«
Ruth Jordan holte tief Luft. »Wir schreiben jetzt das Jahr achtzehnhundertsiebenundneunzig. Mein Enkelsohn starb mit neun Jahren. Im Jahr achtzehnhundertdreiundsiebzig.« Sie sah Kady an. »Mein Enkel ist seit vierundzwanzig Jahren tot.«
Zunächst reagierte Kady verwirrt, dann lächelte sie. Schließlich begann sie zu lachen. »Sehr komisch. Ich glaube, da hat Ihnen jemand eine himmelschreiende Lüge aufgetischt. Vor knapp drei Stunden habe ich Ihren Enkel verlassen, und ich kann Ihnen versichern, daß er überaus lebendig war.«
Einen Augenblick lang saß Ruth Jordan mit dem Brandybecher in der Hand schweigend da. Dann leerte sie ihn mit einem Zug. »Also gut, Liebes, wollen wir gehen?«
»Wohin?« fragte Kady.
»Nun, meinen Enkel besuchen, natürlich.« Sie stand auf und streckte Kady die Hand entgegen. »Kommen Sie, Liebes.«
Kady stand auf, hielt aber Abstand von Ruth Jordan. Vielleicht hatten die Tragödien vor vielen Jahren den Verstand der alten Dame verwirrt. Plötzlich wollte Kady nur noch zu Cole zurück. Allein. Zum erwachsenen Cole, nicht zu einem neunjährigen Jungen.
Sie drehte sich um und lief auf den Baum zu, an dem sie ihr Pferd angebunden hatte. Aber es war nicht mehr da.
»Wollen Sie jetzt vielleicht einen Brandy?« fragte Ruth Jordan leise. Und als Kady nicht reagierte, hielt sie den Becher an ihre Lippen.
»Nein.« Kady wandte sich ab, rang nach Atem und versuchte, nicht auf die Ruinen zu blicken, die früher die blühende kleine Stadt Legend gewesen waren.
Ruth Jordans Kutsche hatte neben ihr angehalten, als Kady zu Fuß nach Legend zurücklaufen wollte, und fast widerwillig war Kady eingestiegen. Gleich nach der Einfahrt in den Ort hatte der Schrecken begonnen. Nur wenige Stunden zuvor war Kady aus einer lebendigen kleinen Stadt voller Menschen geritten, die ihr fröhlich zugewinkt hatten. Jetzt war es nur noch eine Ansammlung baufälliger, schäbiger Häuser.
Zunächst hatten sie die Amaryllis Mine passiert, eine mit Brettern vernagelte alte Förderanlage. Auf einem
Schild stand der Name 9:30 Mine. »Aber das ist doch Amaryllis!« rief Kady.
»Amaryllis hieß Coles kleine Schwester, die am selben Tag wie er getötet wurde«, erwiderte Ruth Jordan leise.
Mit leiser Stimme hatte Ruth Jordan den Kutscher gebeten, eine Straße nach der anderen zu durchfahren, und Kady erkannte den Ort nicht mehr wieder. Jede Straße, jedes Haus, jedes Geschäft war verändert. Es schien mehr schäbige Saloons als sonstwo auf der Welt zu geben, und über ihnen offensichtlich Bordelle. Die Schule war kein hübsches, gepflegtes Gebäude mehr, sondern ein heruntergekommener Schuppen. Das prachtvolle Palace Hotel wirkte wie eine billige Absteige, und Kady bezweifelte, daß es überhaupt Scheiben in den Fenstern hatte. Es gab keine Bürgersteige, keine adretten Gärten mehr, nur eine Lasterhöhle neben der anderen, deren verblichenen Schildern Kady entnehmen konnte, daß das Glücksspiel die Haupteinnahmequelle von Legend zu sein schien.
Am Ortsende, an einer Straße, die sie als Paradise Lane gekannt hatte, die nun aber Damnation Avenue hieß, stand eine bröcklige Steinmauer, die diesen Teil von Legend von jenem zu trennen schien, den sie gerade durchquert hatten. Vor wenigen Stunden war hier noch eine hübsche Hecke gewachsen.
»Die Jordan Line«, erklärte Ruth Jordan leise, tippte Joseph auf die Schulter und sagte ihm, daß sie nun zu Fuß weitergehen würden. Coles Großmutter schien zu spüren, daß Kady vor Erschütterung kein Wort herausbringen konnte, daß sie aber auch Trost und Zu-spruch brauchte, denn sobald sie ausgestiegen waren, ergriff sie fest ihren Arm.
»Legend war ein entsetzlicher Ort«, sagte Ruth Jordan. »Ärger, als Sie es sich vorstellen können. Achtzehnhundertsiebenundsechzig fanden mein Mann und mein einziges Kind, Coles Vater, hier Silber. Sie waren entschlossen, diesen Ort nicht so verkommen zu lassen wie die anderen Silberfundorte in Colorado. Sie wollten keine Absteigen und Saloons. Sie wollten schöne Heime für Familien, Kirchen und Schulen.«
»Idealisten«, flüsterte Kady und klammerte sich an Ruth Jordans Arm. Vor ihr hätte eine Bibliothek stehen sollen, links eine Kirche, aber sie sah
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