Wer abnimmt, hat mehr Platz im Leben
warf mir noch einen Blick zu, den ich als aufmunternd, amüsiert oder schadenfroh interpretieren konnte, und schon war ich auf der Straße.
Ich lief … noch nicht los, schließlich war das noch der Bürgersteig, und ich wollte ja im Park laufen.
Ein paar Meter vom Hotel entfernt führt der erste Fußweg links hinunter zum See. Ich drückte die Starttaste der Stoppuhr und trabte munter los, bloß nicht zu schnell, ich hatte einigen Respekt vor den zwei Minuten. Zwei Minuten, das war der neue Standard, und den galt es jetzt einzuhalten. Zwei Minuten laufen, eine Minute gehen. Ich sog die kühle Mailuft ein, es ging mir sehr gut. Ich roch den Duft des Parks im Frühling, blühende Rabatten, grünende Bäume, schwitzende Gärtner. Als ich das erste Mal prüfend auf die Uhr sah, in der Hoffnung, Zahlen zu sehen, die möglichst nah an der 2 : 00 : 00 waren, stand da tatsächlich schon 1 : 40 : 00 . Das ließ hoffen. Noch ein paar Schritte, noch ein paarmal schwer atmen, dann könnten die Waldbrandaustreter, Größe 47 ½, wieder in gemächlicherem Tempo einherschreiten. Gehpause.
Auch wenn der Geschwindigkeitsunterschied zwischen Laufen und Gehen Außenstehenden marginal vorkommen mag: Für mich waren das Welten. Der Unterschied zwischen einer Wurzelbehandlung mit und ohne Narkose ist für einen Außenstehenden ja auch schwer zu erkennen. Das Ende der Gehpause, das war für mich bislang immer gleichzusetzen mit dem letzten Bissen Pizza Quattro Formaggi, mit dem Weckerklingeln genau in dem Moment, wenn man sich im wohlig warmen Bettchen gerade noch einmal umgedreht hat, mit dem Gong, der dem Boxer signalisiert, dass man ihm jetzt den Schemel unter dem Hintern wegreißt und er wieder zurück muss in die Mitte des Rings. Das Ende der Gehpause, das hieß leiden. Doch plötzlich bemerkte ich, dass das Ende der Gehpause seinen Schrecken verloren hatte. Meine Lunge arbeitete wieder fast normal, ich konnte wieder ins Laufen fallen.
Mein Laufweg hatte sich vom Lietzenseeufer entfernt, es ging bergauf zum nächsten Parkausgang. Gerade als die nächste Gehpause zu Ende war, hatte ich den Gipfel erreicht, und ich konnte talwärts laufen, sehr praktisch. Ich lief wieder nah am See entlang, da hörte ich plötzlich eine bekannte Stimme: »Was machst du denn hier?«
»Ich? Ich spiele in den Wühlmäusen, und vormittags laufe ich immer ein bisschen.«
Mir schossen Gedanken durch den Kopf: Sehe ich in den Laufklamotten nicht unglaublich albern aus? Hat meine Gesichtshaut mittlerweile den Farbton von Annes Lieblingsnagellack angenommen? Wie lange kann ich es schaffen, den Bauch einzuziehen? Kann man den Grad meiner Anstrengung riechen? Allesamt Fragen, die ich mir vorher nie gestellt hatte. Vorher. Aber die bekannte Stimme gehörte nun mal Kim Fischer, der Moderatorin und Sängerin Kim Fischer, die gerade ihren Hund im Lietzenseepark Gassi führte. Im Nachhinein bin ich mir ziemlich sicher, dass Kim Fischer keinen Rassehund besitzt, damals wirkte er auf mich wie das Produkt einer Deutschen Dogge, die mit einem Dackel und einer Straßenkehrmaschine einen flotten Dreier hingelegt hatte.
Kim lächelte mich fröhlich an und fragte: »Wie viel läufst du denn so?«
Ich entgegnete nicht ohne Stolz: »Ich bin jetzt bei zwei Minuten laufen und eine Minute gehen.«
Sie legte den Kopf ein bisschen schief, lächelte wieder und sagte: »Mann, bei den Beinen schaffst du locker drei Minuten.« Sprach’s und zog ihren Köter weiter am Seeufer entlang.
Männer benehmen sich manchmal wirklich albern, wenn Frauen in der Nähe sind. Was sonst wahrscheinlich nur Felix Magath gelungen wäre, dass ich mit einem zackigen »Sir, yes, Sir!« reagierte, schaffte Kim Fischer mit einem Lächeln auf den Lippen: Ich lief drei Minuten.
Ich lief drei Minuten und war wieder einmal froh, dass ich mich in dieser frühen Phase meines Läuferdaseins gegen eine Pulsuhr entschieden hatte, denn dieses High-Tech-Instrument hätte ganz sicher eine Zahl jenseits der 240 angezeigt. Mein Herz hämmerte, ich spürte Adern unter der Schädeldecke, wo überhaupt keine sind, aber ich gab nicht auf. Meine schweren Beine trabten und trabten, die Stoppuhr zeigte 2 : 23 , dann 2 : 47 , die letzten sechs Sekunden zählte ich mit: 6 , 5 , 4 , 3 , 2 , 1 .
Ich hatte es tatsächlich geschafft. 3 : 00 Minuten. Ich wollte mir einfach keine Blöße geben. Wie die Hobbyläufer beim Stadtmarathon, die da, wo die Zuschauer stehen, Gas geben wie ein 100 -Meter-Sprinter, um dann hinter
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