Wer anders liebt (German Edition)
schloss er, »wir können ein Kind bekommen, das umgebracht wird.«
»Aber warum sollte das passieren?«, fragte sie empört.
»Aber meine Liebe, es passiert doch die ganze Zeit, wir stecken mittendrin. Du bist so grenzenlos naiv, du glaubst, solche Katastrophen könnten uns nicht treffen. Hältst du uns für etwas Besonderes?«
Sie wischte einige Brotkrümel vom Tisch.
»Aber wir müssen doch unser Leben leben«, klagte sie. »Wenn wir die ganze Zeit so denken, kommen wir doch nicht weiter und haben am Ende nichts.«
»Ich denke so«, sagte Reinhardt, »und ich lebe mein Leben.«
Eine Pause folgte. Kristine gab Zucker in ihren Kaffee, und Reinhardt schmierte sich noch ein Brot, er hatte sehr kräftige Hände mit steifen Haaren auf dem Handrücken. Sie schaute aus dem Fenster auf den kleinen Gartenflecken, eine Krähe hüpfte eifrig umher, sie blieb sitzen und sah dem Vogel zu. Dabei ging ihr auf, dass sie sich noch nie eine Krähe richtig angesehen hatte. Sie ist schön, dachte sie, und vielleicht kündigt sie auch ein Unglück an, sie hat etwas Mystisches an sich, etwas Geheimnisvolles. Plötzlich hob die Krähe den Kopf und sah Kristine durch das Fenster an.
Reinhardt riss sie aus ihren Gedanken.
»Jetzt hat er nichts mehr zu verlieren«, sagte er, »jetzt hat er die Schwelle überschritten. Vielleicht bedeutet das, dass er wirklich alle Hemmungen verliert.«
»Das sind doch nur Spekulationen«, sagte sie. »Vielleicht wird der Junge unversehrt aufgefunden.«
Sie schluckte einen Bissen Brot hinunter.
»Jetzt bist du wieder naiv«, sagte er.
»Ich kann einfach die Vorstellung nicht ertragen«, sagte sie, »dass ein erwachsener Mann einem Kind so etwas antun kann.«
»Du warst schon immer sensibel«, sagte er. »Das finde ich ja so süß an dir.« Er stand auf. Zugleich bedachte er sie mit einem Blick, den sie noch nie gesehen hatte.
»Wenn du mich verlässt, schlag ich dich zum Krüppel.«
Sie wollte lachen, aber es gelang ihr nicht. Warum sagte er solche Dinge? Zwei weitere Krähen hatten sich draußen auf dem Rasen eingefunden, sie standen hinten bei der Hecke beieinander. Und jetzt kamen noch zwei dazu, bald war eine ganze kleine Schar zur Stelle.
»Sieh mal«, sagte sie und zeigte hinaus.
Reinhardt entdeckte die Vögel.
»Die fressen irgendwas«, sagte er, »ich seh mal nach.«
Er verschwand im Flur, sie hörte die Tür zuschlagen. Immer neue Krähen kamen angeflogen, alle landeten vor der Hecke, es war ein Gewimmel aus Schwarz und Grau, sie konnte sehen, wie sie herumpickten. Und sie dachte an den Hitchcock-Film, den sie einmal gesehen hatte, den mit den Vögeln. Nun sah sie Reinhardt über den Rasen laufen. Die Krähen fuhren in alle Richtungen auseinander, schwärmten über den Himmel. Er bückte sich und starrte, die Hände auf die Knie gestemmt, im Gras lag etwas, das er ausgiebig musterte. Er kam wieder ins Haus, sein Gesicht war ein einziges großes Lächeln.
»Bist du so weit?«, fragte er. »Wir müssen los.«
Sie stand auf.
»Was war denn los?«, fragte sie.
»Ein total verwester Dachs«, sagte er, »ein fetter Riesenkerl von über einem Meter.«
24
Er stand am Fenster und schaute hinaus, die Hände auf die breite Fensterbank gestützt. Die Mutter des Bauern kam über den Hofplatz, sicher will sie Eier holen, dachte er, sie hatte nur einen altmodischen Korb über dem Arm, der ruinierte ihren Rhythmus, machte sie schlechter zu Fuß, als sie eigentlich war. Ihm fiel auf, dass sie ausgeprägte O-Beine hatte, ihre Knochen gaben nach, den Jahren und der Schwerkraft. Er stellte sich vor, dass sie sich jeden Knochen im Leib brechen würde, wenn sie stürzte. Er wich ein wenig zurück, sie sollte ihn nicht sehen, so vor dem Fenster. Ich bin eine leise Seele, dachte er, ich falle nicht auf, und wenn mir doch jemand begegnet, verhalte ich mich höflich und vorbildlich.
Die alte Frau verschwand beim Hühnerstall, und er schaute zum Hügelkamm hinauf. Da kam ein Auto angefahren, es hielt bei den Briefkästen. Vielleicht kam die sehnlich erwartete Rente. Er ging zum Sofa, setzte sich hin und drehte Däumchen. Es geht mir nicht gut, dachte er, überhaupt nicht. Ein Ausflug in die Stadt wäre nett, dachte er, aber sich unter den Menschen sehen zu lassen, war nun zu einem ernsthaften Risiko geworden. Die Leute waren auf der Hut, sie beobachteten scharf. Er entspannte sich erst, wenn der Abend kam, wenn sich die Dunkelheit über das Altenteil senkte, und wenn noch ein Tag vergangen war,
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